Im Februar und März ist Weissrussland von einer Demonstrationswelle bisher nicht gekannten Ausmasses erschüttert worden. Der Auslöser war ein von Staatsoberhaupt Alexander Lukaschenko erlassenes Gesetz gegen sogenanntes „Parasitentum“. Für ihre wirtschaftliche Misere sollten Arbeitslose und prekär Arbeitende mit einer Art Strafzahlung büssen. Die wuchtige Kritik am Gesetz führte bald zu einem Antiregierungsprotest. Schon an der ersten Versammlung liess der seit 1994 autoritär herrschende Lukaschenko die Polizei und den KGB auf die Demonstrant*innen los. Bald wurden Hunderte niedergeknüppelt und verhaftet. Seit Beginn der Proteste spielten Anarchist*innen eine wichtige Rolle. Ihnen galten auch die ersten Repressionsschläge. Unterdessen versuchen aber nationalistische Oppositionsparteien und westliche Interessengruppen von der sozialen Unrast zu profitieren – mit mässigem Erfolg. Für den 1. Mai sind wieder Demonstrationen angekündigt.
Alex, der uns freundlicherweise Auskunft gab, stammt selbst aus Weissrussland und war dort jahrelang in anarchistischen Zusammenhängen aktiv. Heute lebt er aus politischen Gründen in Deutschland. Als Exilant sieht sich Alex indes nicht, da er immer noch nach Weissrussland zurückkehren könne. Mit dem Interview möchte ajour zum Verständnis der im Westen kaum registrierten Protestbewegung beitragen.
Alex, warum gab es Mitte Februar in Weissrussland plötzlich überall Demonstrationen?
Die ersten Proteste fanden am 17. Februar in der Hauptstadt Minsk statt, wo rund 1500 Menschen demonstrierten. Seither haben sich die Proteste auf viele andere Städte des Landes ausgebreitet.
Der Grund für die Proteste liegt in den harten ökonomischen Bedingungen, besonders in den tiefen Einkommen und im Versuch des Staates die Menschen zu „melken“. Kürzlich wurde eine Rentenreform (Erhöhung des Renteneintrittsalters um 3 Jahre, Anm. d. Red.) verabschiedet und das berüchtigte „Parasiten-Gesetz“ eingeführt.
Was ist der Inhalt dieses „Parasiten-Gesetzes“?
Der Kernpunkt dieses Gesetzes ist die Besteuerung von Personen, die während mehr als sechs Monaten im Jahr keine offizielle Arbeit hatten. Wenn du also keine Arbeit hast, musst du dem Staat 150 Euro zahlen (das durchschnittliche Monatseinkommen beträgt 350 Euro, Anm. d. Red.), da du dich ja sonst nicht an der Finanzierung des Staates beteiligen würdest. Das war die Argumentation der Bürokrat*innen. Doch um die direkte Sanierung des Staatshaushaltes geht es nur teilweise; insbesondere soll der Druck auf die Proletarisierten erhöht werden, sich eine Arbeit zu suchen. Allerdings löste dieses Gesetz bei vielen Menschen Zorn aus. Da bezeichnen dich genau jene Leute als „Parasit“, die selbst nichts Nützliches tun! Die sitzen in ihrem Parlament, doch niemand weiss, was sie dort eigentlich tun, ausser ihre Gehälter zu beziehen.
Die schweizerische NZZ frohlockte sofort, dass nun endlich „empörte Bürger“ gegen den Diktator Lukaschenko demonstrieren würden. Was kannst du über diese „Bürger*innen“ erzählen?
Die meisten Demonstrant*innen hatten wohl nicht viel Protesterfahrung. Das waren einfache Arbeiter*innen, Arbeitslose und Arme, die auf die Strasse gingen. Sicher war für einige Demonstrant*innen nicht die „Parasiten-Steuer“ das Hauptproblem, sondern im Allgemeinen Lukaschenkos Regierung. Interessant war, dass die Oppositionsparteien nicht sehr stark vertreten waren und dass die Forderungen an den Demos vor allem soziale und nicht im engeren Sinne „politische“ Themen betrafen. Dennoch waren Parolen allgegenwärtig, die den Rücktritt von Lukaschenko forderten.
Was tat die Linke? War sie an den Protesten beteiligt?
Es gibt keine „Linke“ in Weissrussland. Die einzige starke Gruppe mit einer sozialen Agenda sind die Anarchist*innen. Du könntest jetzt einwenden: „Klar, du bist selbst Anarchist und möchtest einfach nicht von den anderen Kräften sprechen.“ Aber es ist schlicht so, dass es so etwas wie eine „Linke“ in Weissrussland allgemein nicht einmal als Konzept gibt. Die Marxist*innen bleiben in Weissrussland der Strasse fern und haben Diskussionsclubs. Die Kommunist*innen sind teilweise noch immer Bolschewist*innen, die Lukaschenko unterstützen. Teilweise versuchen sie aber auch mit irgendwelchen Ideen des Nationalismus und anderem Kram herumzuspielen.
Ein anarchistischer Block an einer Demospitze in Minsk. Bild: avtonom.org
Vielleicht haben auch deshalb viele Linke hier im Westen gar nichts von diesen Protesten mitgekriegt. Dabei haben sich diese ja rasant ausgebreitet…
Über das ganze Land hinweg haben Leute in den Städten demonstriert. Manchmal auch an Orten, die in der jüngeren Geschichte nicht eine einzige Demonstration gesehen haben. Die Grössenordnung variierte jedoch. Während an einigen Orten ein paar Hundert demonstrierten, kamen andernorts mehrere Tausend auf die Strasse. Die Repression stoppte dann dieses Wachstum.
Repression war die sofortige Antwort des Staates?
Zuerst blieb eine Reaktion aus abgesehen von ein paar ärmlichen Versuchen der Zivilbullen nach der ersten Demo Anarchist*innen zu verhaften. Nach ein paar Tagen musste Lukaschenko aber mit ansehen, wie sich die Protestwelle von Minsk aus auf andere Städte ausbreitete. Dies war der Auftakt für die Staatspropaganda. Im TV liefen dann zum Beispiel bereits Dokumentationen über irgendwelche verrückten Kriminellen, die angeblich in die Proteste involviert waren. Aber auf der Strasse wurde es immer heisser, sodass anfangs März die ersten Verhaftungen vollzogen wurden. Immer mehr Leute wurden abgeführt und das gipfelte am 25. März in einer massiven Polizeioperation in der Hauptstadt Minsk.
Die Verhaftungen trafen zuerst die Anarchist*innen. Weshalb?
Nur in einigen Städten waren Anarchist*innen an den Demos präsent. Dennoch bekam ihre Partizipation grosse Aufmerksamkeit von der Bevölkerung. Es zeigte sich, dass das Zurverfügungstellen eines Megafons zur freien Verwendung oder auch das Rufen von Parolen mit sozialen Forderungen eine viel grössere Wirkung hatten als die Oppositionsreden über die „russische Besetzung Weissrusslands“. Die Anarchist*innen lenkten also den Fokus zurück auf die soziale Agenda. Zudem sorgten sie an den Demos für eine kämpferische Stimmung. In einem Fall konnten sie die Versammelten sogar für eine Demo animieren, obwohl die Oppositionspolitiker*innen dazu aufriefen mit der Regierung zu diskutieren.
Anarchoblock an der Spitze. Im Hintergrund ist eine rot-weisse Nationalistenfahne zu sehen.
Bereits in früheren Jahren sind Anarchist*innen regelmässig in den Knast gewandert. Ist der Anarchismus eine so grosse Bedrohung für das Regime?
Der Anarchismus ist eine der wenigen politischen Ideen, die in den Strassen überhaupt präsent ist. Er spricht die Jugend an, weil er radikale Lösungen vorschlägt und in der Gesellschaft stösst er wegen seiner sozialen Forderungen auf Zustimmung. Wir sind nicht die grösste politische Kraft im Land, aber in vielerlei Hinsicht sind wir die fähigste Gruppe, Dinge zu organisieren.
Wie hat sich die Protestbewegung nach dem Repressionsschlag vom März weiterentwickelt?
Die Proteste haben ein Verständnis dafür erweckt, dass Menschen gegen die Regierung eine Macht entwickeln können. Und diese Erfahrung ist wirklich wichtig für jede weitere Entwicklung. Soziale Forderungen sind etwas, was ich unterstütze. Die Oppositionsparteien versuchen nun aber eine nationalistische Agenda in die Bewegung zu tragen.
Haben sie Erfolg damit?
Ich glaube, dass die Opposition sich nicht für fähig hielt, eine Protestbewegung auszulösen. Als sie aber sah, dass die Leute selbständig auf die Strasse gingen, versuchte sie mehr und mehr mit ihrer Agenda in die Protestbewegung zu gelangen. Ein Beispiel dafür ist die Zunahme von Oppositionsflaggen an den Events sowie die vermehrte Präsenz von Oppositionsführer*innen.
Inwiefern ist die Opposition nationalistisch?
Die gesamte weissrussische Opposition ist stark nationalistisch verfangen. Alle Parteien versuchen auf diese oder jene Weise eine nationalistische Agenda zu forcieren. Teils lässt sich das von der langen Zugehörigkeit zum Zarenreich und zur Sowjetunion herleiten. Die heutigen Nationalist*innen sind aber nicht solche verrückte Typen wie jene vom ukrainischen Rechten Sektor oder sonstige Hardcore-Nazis. Da aber die meisten Leute kaum ein Interesse haben an einer nationalistischen Agenda, erlangten die Oppositionsgruppen während der Proteste keine Dominanz.
Nationalist auf Roller. Vielleicht auf dem Weg an die nächste Demo. Bild: flickr
Überwiegt in der weissrussischen Gesellschaft eher eine pro-europäische, westlich orientierte Tendenz oder aber die Verbundenheit mit Russland?
Kommt darauf an, wen du fragst. Das Land gleicht sicher nicht einem soliden Fels, der zusammenhält. Die Menschen im westlichen Landesteil haben eher pro-europäische Positionen, während im Osten des Landes es die russische Propaganda ist, die mehr verfängt. Gleichzeitig wird überall die ökonomische Leistung der führenden EU-Staaten bewundert.
„Es riecht nach Maidan“, titelte die „junge Welt“, eine deutsche sich marxistisch nennende Zeitung stalinistischen Ursprungs, die kein gutes Haar an diesen Antiregierungsprotesten in einem postsowjetischen Staat liess. Wo siehst du Parallelen zu den Unruhen in der Ukraine, die 2014 in einen Umsturz und in einen anhaltenden Krieg mündeten?
Ich kenne die „junge Welt“ und empfehle ihr damit aufzuhören umherzugehen und Dinge zu riechen. Ernsthaft: Klar gibt es Analogien zwischen den beiden Protesten – etwa die harschen ökonomischen Lebensumstände und ein Machtkampf des Westens mit Russland. Aber du musst dir immer in Erinnerung rufen, dass es sich beim weissrussischen Staat um eine Diktatur handelt. Lukaschenko ist sehr viel begieriger, die Macht zu behalten als es ein Janukowitsch war (der 2014 gestürzte ukrainische Präsident, Anm. d. Red.). Das haben wir selbst viele Male erlebt. Der weissrussische Staat kümmert sich keinen Deut um ein „demokratisches“ Image und es ist für ihn völlig in Ordnung Leute zu verprügeln und zu verhaften.
Du stimmst also der verbreiteten Klassifizierung Weissrusslands als „letzte Diktatur Europas“ zu?
Mehr oder weniger; da sitzt ein Typ seit 23 Jahren fest im Sattel der Herrschaft und unterdrückt jede Regung sozialer Organisierung und der Kritik. Lukaschenkos Persönlichkeit wurde in der Sowjetunion geprägt, als die Partei sich um alles kümmerte und alles kontrollierte. Heute ist Lukaschenko die Partei. Er versucht den Anschein zu erwecken, alles kontrollieren zu können.
In der westeuropäischen Linken gibt es eine Tendenz, sämtliche Protestbewegungen in (post)sozialistischen Staaten als von westlichen Kräften initiiert, gesponsert oder gar kontrolliert aufzufassen.
In den letzten zwanzig Jahren hat der Westen immer wieder versucht in Weissrussland Veränderungen einzuleiten und die Konflikte voranzutreiben, um Lukaschenko zu stürzen. Die Opposition hat Verbindungen zu gewissen Kräften aus den USA und der EU. Aber anstatt Lukaschenko zu bekämpfen, scheint es die EU vorzuziehen mit ihm zusammenzuarbeiten. Seit 2015 versucht die EU Lukaschenko in ihren Einflussbereich zu bekommen. Die aktuellen Proteste und die Pläne der EU passen also überhaupt nicht zusammen! Und nein, weder Obama, noch Trump, noch Merkel, noch Aliens haben die Proteste in Belarus gestartet.
Ich würde dieser „Linken“ empfehlen, etwas weniger Russia Today zu schauen und stattdessen zur Tradition der kritischen Wahrnehmung von Informationen zurückzukehren. Es ist ja nicht so, dass nur der westliche Imperialismus lügt, Putin kann das auch.
Was ist denn nun die Perspektive der Protestbewegung? Bewegt sich überhaupt noch etwas?
Nach der Repression vom 25. März hat sich in der Gesellschaft ein übler Pessimismus breit gemacht. Dennoch gibt es einen Aufruf für Demonstrationen am 1. Mai. Dies könnte der aktuellen Entwicklung wieder etwas Dynamik verleihen.
Hier ballern Anarchist*innen in Rojava aus Solidarität mit den weissrussischen Gefangenen auf ein Foto von Lukaschenko (anstatt auf den IS).
Was können Leute in der Schweiz tun, um den Kampf und die Genoss*innen in Weissrussland zu unterstützen?
Natürlich könnt ihr den Menschen in Weissrussland eure Solidarität zeigen – es gibt nichts Erwärmenderes als zu wissen, dass man im Kampf nicht alleine ist. Für die heutigen und künftigen Repressionsbetroffenen wird Geld gebraucht. Spenden kann man etwa beim Anarchist Black Cross Belarus. Ausserdem sei auf die schweizerisch-weissrussischen Verflechtungen hingewiesen. Die Schweizer Stadler Rail Group (des Ex-SVP-Nationalrats Peter Spuhler, Anm. d. Red.) zum Beispiel profitiert von den wirtschaftlichen und politischen Bedingungen unter Lukaschenko. Stadler unterhält in Weissrussland eine Fabrik, die Züge für den östlichen Markt produziert.
Besten Dank für deine Auskunft!
Mehr Informationen zur anarchistischen Bewegung in Weissrussland gibt es in englischer und selten in deutscher Sprache bei Avtonom.org, bei Pramen.io oder beim Anarchist Black Cross Belarus