«Die paranoide Stimmung bemerkst du überall.» Interview zum trügerischen Tessiner Idyll

Die Affäre um das abgesagte Bello Figo-Konzert bewog uns dazu, mehr über das soziale Klima im Tessin zu erfahren. Wir sprachen mit Genoss*innen von der antiautoritären Informationsplattform «Redazione Rossa e Nera».


In Lugano ist es Nazis gelungen, ein Konzert von Bello Figo zu verhindern. Eine antifaschistische Intervention blieb aus. Warum?

Wir haben mit verschiedenen Genoss*innen darüber gesprochen und wir bekamen den Eindruck, dass über die Geschichte und insbesondere über die zwei Jungnazis eher gelacht wurde. Es herrschte die Meinung vor, dass es sich ja bloss um zwei unbedeutende Jungs handle, die sich zudem besonders dumm angestellt hätten. Wie von Seiten der Politik, der Polizei und der Justiz wurde die Geschichte auch in der Linken eher kleingeredet und unserer Meinung nach unterschätzt. Hinzu kommen Spaltungen und erhebliche Berührungsängste innerhalb des linken Spektrums. Die beiden Täter wurden aber auch nicht ernst genommen, weil sie Reue zeigten und zugaben, dass es ihre «Associazione Nuova Destra» gar nicht gibt. Wir denken, dass der in Lugano sehr einflussreiche Papa des einen Neonazis ein Machtwort sprach à la «He Jungs, ich kann euch aus dieser Scheisse holen, doch dafür müsst ihr jetzt einen Schlussstrich ziehen.» Es ist aber auch so, dass die etablierten neonazistischen und faschistischen Organisationen Italiens und Europas die verschiedenen Tessiner Nazibanden eher belächeln.

Welche Nazibanden meint ihr?

Es gibt zur Zeit zwei mehr oder weniger aktive Nazi-Zusammenhänge im Tessin. Die eine kommt aus dem Norden, aus Biasca und den umliegenden Tälern. Diese Gruppe nennt sich «Skinheads Ticino». In Biasca tummeln sich die Rechten auch innerhalb der winzigen Fankurve des Erstliga-Eishockeyclubs «HC Biasca Ticino Rockets». Die betreffenden Fans organisieren sich in der «Nord-Kurve» und trafen sich immer in der gleichen Bar. Irgendwann bekam die Bar aber Besuch von Leuten aus der Ambri-Piotta-Kurve, die ja für ihren Antifaschismus bekannt ist. Die Faschos sind damit aber nicht einfach verschwunden.

Naziskins posieren vor einem Panzer des Militärmuseums Biasca. Aufnahme vom Sommer 2015.

Die andere Gruppe kommt aus der südlichen Region Malcantone im Bezirk Lugano. Das rechtsextreme Milieu des Sottoceneri (südlicher Kantonsteil) orientiert sich stark an Italien, pflegt Kontakte zu Faschist*innen aus Mailand oder zu rechten Ultragruppen aus Varese und Verona. Aber auch umgekehrt kommen italienische Nazis aus grenznahen Dörfern gerne mal nach Lugano und schauen sich dort ein Fussballspiel an oder treffen sich in Bars mit Gleichgesinnten. Ach ja, des Weiteren gibt es noch ein Tierrechtsgrüppchen, das sich «Offensiva Animalista» nennt und das Nazis in seinem Umfeld toleriert.

Die Skinheads Lugano gibt es ca. seit 2013.

Seit Jahren ist bekannt, dass sowohl unter den Fans des HC wie auch des FC Lugano eine erhebliche Zahl von Rechtsextremen sind.

Ja, doch man muss differenzieren. Beim HC Lugano zum Beispiel ist die Kurve – grob gesagt – dreigeteilt. Links steht die Fangruppe «Fossa», das sind Anarchist*innen. In der Mitte stehen die «Ragazzi della Nord» (RDN). Die RDN ist die grösste Fangruppierung und innerhalb dieser gibt es durchaus Faschos, die das auch zeigen. Daneben stehen noch die Alten, «i Veterani». Es ist natürlich einerseits etwas befremdlich, wenn sich Linke und Rechte im Stadion arrangieren und koexistieren. Doch man muss auch anerkennen: Wäre Fossa nicht in der Kurve, würde die Rechte alles dominieren.
Beim FC Lugano kennen wir uns zu wenig aus. Doch ein bekannter Capo der FC Lugano Ultras, Omar Wicht, ist eindeutig rechtsextrem. Hinsichtlich der Absage des Bello Figo-Konzerts kommentierte Wicht auf Facebook: «Eine gesunde Antwort von einer gesunden Gesellschaft.» Das haben Recherchen des Onlinemagazin GAS.social ergeben. Omar Wicht ist aber nicht nur Fussballfan, sondern auch Stadtparlamentarier für die Lega dei Ticinesi.

Auch die beiden Neonazis, die für die Drohungen gegen Bello Figo verantwortlich waren, sind Fans des FC Lugano.

Ja, sie sind Teil der «Bravi Ragazzi», einer neuen Fangruppe, die kaum mehr als zehn Jungs umfasst. Das Facebook-Profil der Gruppe war voller Nazidreck. Mittlerweile ist es gelöscht worden. Die langjährige Fangruppe «Teste Matte» aber hat sich während einem Heimspiel insofern distanziert, als dass sie ein Transparent hochhielt, auf dem stand: «Unsere Politik ist Lugano». Auf einem Flugblatt bekräftigte Teste Matte nochmals, dass sie eine unpolitische Kurve seien, in der es keinen Platz für «Extremist*innen von links oder rechts» hätte. Zur rassistischen Drohung oder zu den Bravi Ragazzi äusserte sich Teste Matte aber nicht. Ihr Zorn galt primär den Medien, die den Ruf der Kurve beschädigen würden.

Die «mutigen Buben» machen auf Ultras.

Ist also Lugano die von rechten Aktivitäten am stärksten betroffene Tessiner Region?

Wir haben in verschiedenen Städten des Tessins gewohnt. Tendenziell ist die gesellschaftliche Stimmung im bedeutsamen Finanzplatz Lugano reaktionärer und elitärer als im Norden. Doch unsere Eindruck ist, dass heute am ehesten Bellinzona ein Nazi-Problem hat. Für die Biasca-Gruppe ist es die nächstgelegene grössere Stadt. An Wochenenden reisen die Biasca-Faschos gerne gemeinsam nach Bellinzona runter und treiben sich dort in den Strassen rum, gehen feiern oder pöbeln Leute an. Locarno hingegen könnte man schon fast als nazifrei bezeichnen.

Beim Pöbeln ist es aber nicht geblieben…

Nein. Kürzlich wurde beispielsweise eine bekannte anarchistische Genossin in der Umgebung von Bellinzona verprügelt. Die Faschos hatten sie erkannt und dann gemeinsam angegriffen. Genoss*innen suchten danach zwar nach den Tätern, konnten sie aber nicht mehr auffinden. Auch in Lugano wurden Genoss*innen angegriffen. Das war anfangs 2016. Auch damals suchten Leute in den Quartieren nach den Angreifern, um ihnen eine Antwort zu geben. Oder vor etwa zwei Jahren schmiss eine Gruppe von Rechten Glasflaschen auf das autonome Zentrum CSOA Molino. Aber die Leute im Haus sagten sich, dass weder dieser Angriff noch die allgemeine Situation wirklich eine Bedrohung ist. Deshalb blieben harte Reaktionen bisher aus.

Ist die Lage wirklich so harmlos?

Jeder Angriff ist einer zu viel. Aber tatsächlich ist es bis jetzt überschaubar und es gibt aus neonazistischen Kreisen kaum kohärente Organisierungsansätze. Es sind eher subkulturelle Milieus, die meist zurückgezogen dahinvegetieren. So auch die Rechten aus der HC Lugano-Kurve; die grosse Mehrheit interessiert eigentlich nur Eishockey und nicht ein politisches Projekt. Vor 15 Jahren war es viel schlimmer. Damals waren die Faschos eine ständige Bedrohung. Doch auch die Linke war stärker als heute.

Woran zeigte sich die damalige Stärke der Linken?

Beispielsweise gab es im Jahr 2002 einen wirklich beeindruckenden Häuserkampf um einen ehemaligen Schlachthof, die «ex-Macello». Es gab wöchentlich Demonstrationen für den Erhalt dieses besetzten Zentrums. Mal waren die Demos friedlich, mal nicht. Der Bürgermeister blieb lange hart, doch nach zwei Monaten musste er klein beigeben, denn die Demos hörten einfach nicht mehr auf. So existiert das Zentrum bis zum heutigen Tag. Interessant ist, dass diese Kampfphase auch eine Langzeitwirkung entfalten konnte. So versuchte jüngst Michele Bertini, der aufstrebende FDP-Jungpolitiker und Vize-Bürgermeister von Lugano, sich mit einer Hetzkampagne gegen das Molino zu profilieren. Etwa analog zu Erich Hess mit der Berner Reitschule. Doch ein altgedienter Politiker riet ihm eindringlich davon ab, dieses heisse Eisen anzufassen.
Als ein weiteres Beispiel erfolgreicher Kämpfe könnte die antifaschistische Mobilisierung vom Dezember 2006 erwähnt werden. Die Lega, die SVP und einige Neonazis hatten eine Demo angekündigt, konnten aber wegen unserer Blockade gleich wieder einpacken.

Zurück zur Absage des Bello Figo-Konzerts. Während die autonome Linke überhaupt nicht reagierte, starteten einige Vereine und Einzelpersonen eine Onlinepetition, die zur Solidarität mit Bello Figo und zur Verteidigung demokratischer Werte aufrief.

Genau. Dieser Appell kam vermutlich aus dem Umfeld der Juso und des kritischen Tessiner Onlinemagazins GAS.social. GAS wird von linken Sozialdemokrat*innen um den bekannten Grafiker und Zeichner Corrado Mordasini gemacht. Eine Onlinepetition ist natürlich nicht viel, aber immerhin etwas.

Wollte man sich womöglich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen für einen Künstler, dessen Inhalte nicht über alle Zweifel erhaben sind?

Nein, vor ein paar Jahren wurde versucht, Bello Figo ins Molino zu holen, doch er verlangte zu viel Honorar. In der italienischen linksradikalen Szene wird er teilweise gefeiert. Wir halten ihn aber für einen Idioten. Trotzdem ist es durchaus interessant, was er mit seinem Fake-Rap auslöst. Er spielt mit Stereotypen und bringt damit die Rechte auf die Palme. Aber klar, er rappt auch sexistische Inhalte und verherrlicht gewissermassen den Materialismus. Man kann es aber auch ironisch verstehen. Gerade diese Ambivalenz und die Ironie machen ihn so erfolgreich. Und: Er hatte der Faschistin Alessandra Mussolini (die Enkelin Benitos, Anm. d. Red.) vor Tausenden Fernsehzuschauer*innen ordentlich die Kappe gewaschen. Das ist doch gut!

Irgendein solidarisches Zeichen wäre also möglich gewesen.

Wir teilen die bei Tessiner Genoss*innen vorherrschende Meinung, dass die grösste Gefahr nicht von irgendwelchen Nazigrüppchen ausgeht, sondern von rechtsextremen Netzwerken in Wirtschaft, Polizei und Parteien (Lega aber auch FDP oder CVP). Dennoch halten wir es für einen Fehler, dass unsere Bewegung im Tessin nach der rassistischen Aktion gegen Bello Figo keine dezidierte antifaschistische Aktion organisiert hat. Immerhin stellte das linke Kollektiv Scintilla eine Mitteilung zu den Ereignissen ins Internet.


Die fremdenfeindliche Lega dei Ticinesi holte 2011 am meisten Stimmen und stellt seither zwei Regierungsräte.

Der Generalstaatsanwalt John Noseda (SP) verurteilte die beiden Täter wegen Nötigung, sah aber keinen Verstoss gegen den Antirassismus-Paragrafen – trotz öffentlich gezeigter nationalsozialistischer Symbolik. Die Strafe zu 90 Tagessätzen ist auf Bewährung ausgesetzt. Was sagt ihr zum Urteil?

Es passt perfekt zur allgemeinen Erzählung, es handle sich ja bloss um «una ragazzata», einen Lausbubenstreich. Es passt auch zum Klima im Tessin, das sehr intolerant und gereizt ist.

Woran zeigt sich dieses gereizte Klima?

Viele Tessiner*innen fühlen sich verarscht. Es gibt eine massive italienische Arbeitsmigration. Lohndumping ist ein grosses Problem. Und als im letzten Sommer plötzlich viele Flüchtlinge vor Chiasso auf Einlass warteten, war die Hysterie komplett. Dieser Tage nerven sich die Leute, wenn italienische Tagestourist*innen ins Valle Verzasca strömen. Sofort war die Rede von Stau verursachenden und die Bergtäler verschmutzenden «frontalieri» (Grenzgänger*innen). Der schweizerische (Einkaufs-)Tourismus in Italien scheint umgekehrt nicht hinterfragt zu werden.

Dafür gab es einen riesigen Aufschrei, als bekannt wurde, dass die SP-Kantonsrätin Lisa Bossia Mirra Flüchtlinge über die Grenze geschleust hatte…

Genau. Viel geringere Empörung lösste dagegen die Affäre um die «Sicherheitsfirma» Argo 1 aus. Der Boss dieses Unternehmens schüchterte monatelang Flüchtlinge ein und verprügelte diese – auch Minderjährige. Weil zudem ein schweizerisch-türkischer Angestellter von Argo 1 in Verdacht stand, in Asylzentren für die Al-Kaida und den IS angeworben zu haben, wurden Anti-Terror-Ermittlungen eingeleitet. Dabei kam zum Vorschein, dass der CVP-Regierungsrat Paolo Beltraminelli den Auftrag über Jahre direkt an Argo 1 vergab. Eine öffentliche Ausschreibung wurde umgangen, weil Argo 1 mit Lohndumping ein sehr attraktives Angebot machen konnte.
Der Skandal war aber eher medialer Art. Dass irgendwelche Fascho- und Islamistensecurities auf Flüchtlinge losgelassen worden waren, liess viele Tessiner*innen kalt. Ebensowenig Mitgefühl lösten zwei tragische Zugunfälle aus. Um die Grenze zu überwinden, kletterte anfangs Jahr ein Flüchtling auf das Dach einer Regionalbahn, verunfallte aber schwer. Ein anderer wurde bei einer solchen Aktion sogar durch einen Stromschlag getötet. Wir haben deswegen in der Gesellschaft aber kaum negative Gefühle wahrgenommen.

Welche Rolle spielt in diesem Klima die fremdenfeindliche Lega dei Ticinesi?

Mit der Lega-Politik fühlen sich die Leute auf der sicheren Seite. Man hat ein identitäres Gefühl geschaffen nach dem Motto «Keiner kümmert sich um uns Tessiner». Die paranoide Stimmung bemerkst du überall – in Bars, auf Facebook, auf der Arbeit. Die Lega spielt gut. Auch wenn ihre Führer-Figur Giuliano «il nano» Bignasca weggestorben ist und so ein Vakuum entstanden ist, konnte die Partei 2011 mit 30 Prozent Wähler*innenstimmen einen zweiten Regierungssitz erobern. Die Lega schafft es trotz ihrem verlogenem Spiel, eine saubere Fassade zu bewahren. So lancierte sie mit der SVP die Initiative «prima i nostri» (Zuerst die Unsrigen), die einen kantonalen Inländervorrang bei der Arbeitsvergabe vorsieht. Im Initiativtext ging es einzig um die Herkunft und nicht im Ansatz um Faktoren wie Arbeitszeit oder Lohnhöhe. Gleichzeitig sind führende Lega-Mitglieder selbst Unternehmer*innen, die Italiener*innen für 2000 Franken im Monat ausbeuten. Trotzdem wurde die Initiative klar angenommen. Das ist doch ein klares Zeichen. Kaum nötig, zu erwähnen, dass die parlamentarische Linke gleichzeitig immer schwächer wird.

Und was tut die radikale Linke?

Es gibt verschiedene Strömungen, vor allem Kommunist*innen und Anarchist*innen. Ein Ort, wo politische Aktivitäten organisiert werden können, ist das CSOA il Molino. Dort gibt es viele politische Veranstaltungen. Doch man hat sich im Molino entschieden, einen beständigen politischen Ort zu etablieren, der nicht ständig in den Fokus der Justiz gerät und so von der Schliessung bedroht wäre. Das hat natürlich einige Vorteile, doch ein kämpferischer Ort ist das Molino in unserem Verständnis nicht mehr. Zudem ist dort vieles von der jeweiligen Generation abhängig, die sich gerade im Zentrum organisiert. Politische Kontinuität ist so schwer zu leisten.

Besetzt seit 1996: Das autonome Zentrum CSOA Molino.

Aber es gibt noch andere linke Zusammenhänge?

Das Panaroma hat sich in den letzten Jahren etwas verändert. Vor fünf Jahren konnten wir noch klar sehen: Die Aktiven teilten sich auf in das Milieu um das Molino, jenes um die Gruppe Scintilla und schliesslich gab es noch die KP-Ecke. Die Partito Comunista (PC) ist heute aber nichts mehr, besteht nur noch aus ein paar wenigen Intellektuellen und hat kaum noch Kontakt zu Arbeiter*innen oder Menschen, die kämpfen. Sie ist ganz zufrieden mit ihrem einen Kantonsratssitz und den paar Gemeinderäten, die sie stellen. Einst hatte sie aber noch «Massenorganisationen» mit einigen Mitgliedern und gewisser Wirkung. So ist 2008 der Schüler*innen- und Lehrer*innenstreik gegen Kürzungen eigentlich von der PC und der ihr damals nahestehenden SISA (Sindacato Indipendente Studenti e Apprendisti, Unabhängige Schüler- und Lehrlingsgewerkschaft) organisiert worden. Doch ab 2014 kam es in diesem Milieu zu Spaltungen. Die PC wurde aus der Partei der Arbeit der Schweiz (PdAS) geschmissen. Als Konkurrenzpartei zur PC gründeten darauf einige die Partito operaio e popolare (Pop), die wiederum Teil der PdA ist. Doch besteht die Pop im Wesentlichen bloss aus älteren Menschen und einigen UNIA-Funktionären, hat aber immerhin ein paar Arbeiter*innen in ihren Reihen. Viele Unzufriedene haben den Parteien den Rücken gekehrt und sich verstreut. Dann gibt es auch noch das trotzkistische Movimento per il Socialismo (Mps). Diese Partei ist zwar klein, aber relativ aktiv und stört mit Vorstössen ihres Kantonsrats Matteo Pronzini immer wieder die bürgerliche Eintracht.
Scintilla wiederum ist eine junge und pluralistische Gruppe mit einem Hang zum Marxismus-Leninismus, doch ist für sie zur Zeit keine valable Partei in Sicht. Mit dem PC haben sie nichts am Hut. Viel mehr ist Scintilla ziemlich präsent mit allerlei Aktionen, organisiert auch einen Antira-Cup, der jedes viele Leute versammelt. Ende Juli kamen etwa 500 Leute zum Cup, darunter 6 migrantische Teams. Scintilla agitiert gut gegen Rassismus und das Grenzregime und setzt sich für politische Gefangene und gegen Sexismus ein.

Was ist mit jenen Anarchist*innen um den Circolo Carlo Vanza oder um die Zeitung Voce Libertaria?

Der Circolo ist ein Zusammenhang von älteren Anarchist*innen, die einmal pro Woche zusammentreten und Dikussionsveranstaltungen organisieren. Aktivistisch oder auf der Strasse ist er aber nicht. Die Voce Libertaria wiederum ist eine bereits seit zehn Jahren existierende libertäre Vierteljahresschrift aus dem Tessin. Sie hat aber eine sehr beschränkte Reichweite. Seit einem Jahr gibt es aus dem antiautoritären Milieu die Infopage frecciaspezzata, die vor allem über den Kampf gegen das Grenzregime berichtet.

In jüngerer Vergangenheit gab es im Tessin durchaus gelungene Aktionen. Die Demo gegen Grenzen etwa vom letzten Sommer…

Ja, das war die letzte starke Aktion. Es war ein populäre und wichtige Demo, an der sich verschiedene Spektren und auch Eltern mit Kindern beteiligten. Die Stimmung war aber zeitweise etwas merkwürdig. Vorbereitet wurde die Demo nämlich von einem ziemlich breiten Kreis. Man beschloss, massiv aber friedlich aufzutreten. Dann gab es einige Missverständnisse und plötzlich machte ein Flyer die Runde, der eher einen militanten Eindruck hinterliess. Dieser Flyer wurde in der ganzen Schweiz gestreut. Die Orga-Gruppe im Tessin wurde damit etwas überrumpelt und man wusste dort nicht mehr, was einen am Demotag eigentlich erwarten werde. Man rätselte: Wird es eine Black Block- oder doch eher eine breite Demo werden? Schliesslich sind dann rund zwanzig Genoss*innen aufgetaucht, die schwarz vermummt waren. Einige wenige der bereits Anwesenden verliessen deswegen die Demo. Doch zu einem Riot kam es nicht, es blieb bei einigen Graffitis und Petarden. Die Robocops waren aber sehr präsent. Die Stimmung war deswegen etwas angespannt und die Leute waren verunsichert. Vermummte und Riots kennt man im Tessin praktisch nur aus der Zeitung. Angemessen waren die illegalen Aktionen aber auf jeden Fall. An der Grenze wurde damals ja wirklich üble Scheisse abgezogen. Die Polizei verfrachtete Flüchtlinge direkt in Käfige und Sonderzellen. Racial Profiling war in Zügen allgemein akzeptierter Standard. Am Ende war die Demo für die allermeisten Beteiligten ein Erfolg.

Rund 1000 Personen demonstrierten im September 2016 in Chiasso.

Konnte sich aus dieser Demo eine Dynamik entwickeln?

Leider nicht genug. Es wird schnell vergessen. Ein Beispiel: Vor zwei Wochen organisierte die Juso einen Protestmarsch vom italienischen Como ins schweizerische Chiasso. Dumm nur, dass sie vor einem Jahr an der Demo in Chiasso nicht dabei waren. Doch immerhin: Sie versuchen, das Thema aktuell zu behalten. An der Demo sind dann aber bloss zwanzig Jungsozialist*innen erschienen. Klar, viele sind nicht gekommen, weil die Juso die zweifelhafte Organisatorin war. Doch es ist auch so, dass bereits wieder Gleichgültigkeit eingezogen ist.

Für Arbeitskämpfe scheint es aus der Bevölkerung aber immer wieder viel Solidarität zu geben. Bei der Officina in Bellinzona etwa oder als kürzlich die Schifffahrt auf dem Lago Maggiore für über zwei Wochen bestreikt wurde…

Das stimmt. Während des Streiks auf dem Lago Maggiore legte die Lega übrigens ein ziemlich charakteristisches Verhalten an den Tag. In dem italienischen Schifffahrtsunternehmen streikten ja ausschliesslich Schweizer. Zuerst ignorierte die Lega den Streik, äusserte sich nicht zu ihm. Doch dann kam Norman Gobbi und faselte etwas von einem «unschweizerischen Verhalten» – dies obwohl seine Partei behauptet, die einzige zu sein, die sich um die Tessiner Arbeiter*innen kümmert. Es ist halt so, dass einige Lega-Kapitalist*innen in die italienisch-schweizerische Schifffahrt investiert haben. Deren Interesse zählt natürlich mehr, als die par Stellen der Matrosen und Kapitäne.

Was könnt ihr über diesen Norman Gobbi, den Lega-Regierungsrat, Polizeidirektor und ehemaligen SVP-Bundesratskandidaten erzählen?

Gobbi gibt sich als den properen und ehrlichen Tessiner, der aufräumen will. Tatsächlich ist er ein rechter Militarist und nimmt bei jeder Gelegenheit die Polizei in Schutz und fordert ihre Verstärkung. Das merkt man bereits. Die Polizei nimmt heute viel mehr Raum ein als früher. Übrigens sagte Gobbi, es sei ein Fehler gewesen, dass Bello Figo-Konzert abzusagen. Zwar wird er kaum ein Fan des Rappers sein, doch er kann ja kaum eine Nazi-Aktion goutieren. Gobbi meinte dann noch, man dürfe sich weder von Rechts- noch von Linksextremen einschüchtern lassen.


«Wir müssen die Schlepper bei der Migration überwachen.» Gobbi freut sich, dass die Armee im Kampf gegen «Banden» Drohnen über der Südgrenze kreisen lässt.

Der altbewährte Trick, anlässlich eines rechtsextremen Vorfalls sofort auch vor der Linken zu warnen…

Sicher. Aber wir möchten noch etwas zur Polizei sagen, genauer zur Polizei in Lugano. Innerhalb ihres Corps dient bekanntlich eine ganze Reihe von extremen Rechten, auch solche, die offen dazu stehen. Wiederholt äusserten sich Luganeser Polizist*innen auf Facebook ausländerfeindlich oder sogar nazi-verherrlichend. Ernsthafte Konsequenzen hatte das aber nie. Das ist eine Folge des ausgeprägten kameradschaftlichen Klimas, in welchem sich die Polizist*innen gegenseitig in Schutz nehmen und decken.
Zu einem gravierenden Vorfall ist es im Januar 2016 vor dem Molino gekommen. An jenem Abend fand dort eine Party statt. Nachdem die Polizei draussen Leute schikanieren wollte, entwickelte sich eine kleine Auseinandersetzung mit ein paar Flaschenwürfen. Die Polizei ist daraufhin abgezogen. Als irgendwann nachts schliesslich ausgetanzt war, wollten sich die beiden DJs auf den Nachhauseweg nach Italien machen. Doch kaum sind sie in ihr Auto gestiegen, tauchten die Bullen auf und zielten mit gezogener Waffe auf sie. Beide wurden verhaftet und für mehrere Stunden in die Zelle gesteckt. Ohne irgendeine Anklage zu erheben, liess man sie wieder frei. Die Polizei gab ihnen noch die Aufforderung mit, «diesen Ort von Zecken» nie mehr zu besuchen, sondern da zu bleiben, wo sie hergekommen seien. So was tut die Polizei von Lugano – und zwar ohne Konsequenzen!

Mögt ihr zum Schluss noch die «Redazione Rossa e Nera» vorstellen?

Wir sind ein kleines aber mehrsprachiges Medienkollektiv und in verschiedenen Schweizer Städten situiert. Seit ca. einem halben Jahr betreiben wir das Infoportal rrn.tracciabi.li. Die Schweiz ist zwar ein kleines Land, hat aber verschiedene Sprachen, die durchaus noch Hürden darstellen. Die rotschwarze Redaktion will eine Brücke sein, um diese Hürden zu überwinden. Bisher haben wir vor allem über Kämpfe im Tessin berichtet. Während des Streiks auf dem Lago Maggiore etwa waren wir immer sehr aktuell. Wir übersetzen auch Geschichten aus der Deutsch- oder Westschweiz. Unser Selbstverständnis ist anarchokommunistisch, antiautoritär, libertär. Doch wir haben einen weiten Blick auf alle möglichen Kämpfe und Bewegungen.

Besten Dank für dieses Gespräch!