Von Ralf Dreis, Thessaloniki Massenverhaftungen auf Demonstrationen, Folter auf der Polizeiwache, jahrelange Untersuchungshaft, Verurteilungen ohne Beweise, Razzien nach «anonymen» Hinweisen, Verweigerung von Hafturlaub. Die Liste liesse sich beliebig fortsetzen. Der unerklärte Krieg des griechischen Staates gegen Anarchist*innen ist längst Routine und wird seit Jahren mit zunehmender Härte geführt. Nun hat es erstmals zwei junge Menschen erwischt, die weder mit Politik noch der anarchistischen Bewegung zu tun haben.
Nach sechsjährigen Ermittlungen wurden Iriánna und Periklís am 1. Juni 2017 in einem der skandalösesten Prozesse der letzten Jahre durch ein Sondergericht in Athen als angebliche Mitglieder der Verschwörung der Feuerzellen (Synomosía Pyrínon tis Fotiás, SPF) zu 13 Jahren Knast verurteilt. Auch die auf das Urteil folgende Welle der Empörung und die grosse öffentliche Unterstützung für die Doktorandin der Universität Athen, Iriánna B. L., brachten bislang keine greifbaren Ergebnisse. (Periklís M. und seine Familie wünschen aus Angst vor womöglich negativer Beeinflussung der Revisionsinstanz keinerlei Solidaritätsbekundungen.) Am 17. Juni lehnte das Gericht die Aussetzung der Strafe bis zur Revisionsverhandlung ab. Iriánna und Periklís bleiben nun mindestens zwei Monate in Haft, bis sie erneut die Möglichkeit auf einen Antrag zur Aussetzung der Strafe stellen können. Eltern, Freund*innen und mehr als 500 Unterstützer*innen hatten seit den frühen Morgenstunden im und vor dem Gerichtssaal ausgeharrt. Nach der Urteilsverkündung kam es zu Auseinandersetzungen mit den vermummten Polizeieinheiten, die schon zuvor mit ihrem martialischen Auftreten für Terrorstimmung gesorgt hatten. Unter dem zentralen Motto «Nein zur Kriminalisierung von Meinungen und sozialen Beziehungen» riefen linke und anarchistische Gruppen am Folgetag in Athen und Thessaloníki zu Demonstrationen auf. In Athen kam es erneut zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, die Tränengas und Blendschockgranaten einsetzte. 14 Personen wurden vorläufig festgenommen.
Die Geschichte der Kriminalisierung Iriánnas beginnt am 14. März 2011. Die damalige Philosophiestudentin übernachtet bei ihrem Freund Konstantínos Papadópoulos, als sogenannte Antiterroreinheiten der griechischen Polizei die Wohnung stürmen. Papadópoulos, sein Mitbewohner Periklís und Iriánna werden vorläufig festgenommen. Iriánna gibt bereitwillig ihre Fingerabdrücke und eine DNA-Probe ab. Da weder gegen den Mitbewohner noch gegen Iriánna etwas vorliegt und keinerlei belastendes Material in der Wohnung gefunden wird, kommen beide nach wenigen Stunden frei. Auch Papadópoulos, der mit einigen Mitgliedern der SPF befreundet ist und noch nach deren Verhaftung Kontakt mit ihnen hält, wird nach drei Tagen auf freien Fuss gesetzt. In einem am 12. Juni 2017 in der Tageszeitung Efimerída ton Syntaktón publizierten offenen Brief beschreibt Konstandínos Papadópoulos die Ereignisse:
«14. März 2011 Sondereinheiten der Polizei stürmen die von mir gemietete Wohnung […] und verhaften mich wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in der bewaffneten Organisation Verschwörung der Feuerzellen. Iriánna hat das Pech in dieser Nacht bei mir zu übernachten. Sie wird vorläufig festgenommen, verhört, gibt freiwillig eine DNA-Probe ab und wird entlassen. Ich selbst komme mit Meldeauflagen nach drei Tagen frei.
18. November 2011 Laut Aussage eines Zeugen, der seitdem nirgends mehr auftaucht, werden Waffen, die niemals benutzt wurden, auf dem Campus der Universität im Stadtteil Zográfou gefunden.
11. Januar 2013 Iriánna wird verhaftet und als Mitglied der Verschwörung der Feuerzellen und wegen Waffenbesitz angeklagt. Als Begründung wird eine angebliche Gentyp-Übereinstimmung Iriánnas mit einer DNA-Spur von sehr schlechter Qualität, auf einem nicht in einer Waffe befindlichen Waffenmagazin aus dem Fund an der Uni genannt. Anderthalb Jahre nach der «Enddeckung» dieser Waffen und zwei Jahre mit Iriánnas DNA zur freien Verfügung der Polizei. Sie wird mit Meldeauflagen auf freien Fuss gesetzt, ohne dass der Untersuchungsrichter ihren Namen oder ihr Foto veröffentlicht. Dies geschieht, während der Prozess gegen mich läuft, mit allem, was das für seinen Ausgang hätte bedeuten können. Trotzdem werde ich mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft einstimmig freigesprochen, da alle akzeptieren, dass meine Beziehung zu einigen Mitgliedern der SPF rein freundschaftlicher Art im Rahmen der antiautoritären Szene waren, was ich nie bestritten habe. Das Urteil ist rechtskräftig. Trotz der auch auf sie abzielenden Repression trennt sich Iriánna nicht von mir. Sie bleibt, ignoriert demonstrativ die Angst und lebt ihr Leben. Sie arbeitet mit Leidenschaft, entwickelt sich beruflich, pflegt Freundschaften, träumt, lebt. Ich immer an ihrer Seite. Wenn man ihren Prozess nicht selbst im Verhandlungssaal miterlebt hat, ist es kaum möglich nachzuvollziehen, was dort ablief. Die Staatsanwältin bezog sich von Beginn an auf mich, ganz so, als sei ich erneut der Angeklagte. Sie hatte es offensichtlich nicht verdaut, dass ein anderes, gleichinstanzliches Gericht, einen Menschen freigesprochen hat, der öffentlich erklärt, mit Mitgliedern der SPF befreundet zu sein. Das ging einfach nicht in ihr Hirn. Immer wieder fragte sie Iriánna voller Vorurteile, warum wir uns nicht getrennt hätten. […] Iriánna wurde zu 13 Jahren Knast verurteilt. Sie wurde als Mitglied der Verschwörung der Feuerzellen verurteilt, weil sie eine Beziehung mit mir hat, obwohl ich laut der Gerichte kein Mitglied der Organisation bin. Iriánna wurde auch wegen Waffenbesitz verurteilt. Einziges Indiz ist die angebliche Gentyp-Übereinstimmung mit einer DNA-Spur von schlechter Qualität. Die noch dazu, schon als sie während der Voruntersuchung zwecks Gegenkontrolle von einem auf solche Untersuchungen spezialisierten Institut, das mit den Justizbehörden in ganz Europa zusammenarbeitet, angefordert wurde, laut Polizeiaussagen «aufgebraucht» war. […] Paranoia? Dummheit? Vorurteile? Befehle von oben?
Mir egal. Mit dieser Urteilsbegründung kann jeder und jede angeklagt und für egal was verurteilt werden. Es reicht mit jemandem befreundet zu sein, der mit jemandem befreundet ist. Eine Kollektivschuld, nicht nur als Drohung zur Kriminalisierung einer politischen Szene, sondern jedweder Beziehung, die sie aus welchem Grund auch immer treffen wollen. […] Iriánna hat sich nicht vorschreiben lassen, wen sie sympathisch findet, wen sie liebt, mit wem sie zusammenlebt.»
Keine Zeugen, keine Aussagen, keine Indizien. Trotzdem schuldig!
Die Verteidigung Iriánnas hatte George Fitsialos, einen erfahrenen Forensiker und Wissenschaftler auf dem Gebiet der DNA-Analyse, der schon mit verschiedenen Polizeibehörden in ganz Europa zusammengearbeitet hat, als Zeugen geladen. Fitsialos bezeichnete die präsentierten Beweise als «äusserst unzureichend» und warnte vor «tragischen Fehlern, ernsthaften Mängeln und signifikanten Abweichungen». Ein eindeutiges Ergebnis sei auf dieser Grundlage unmöglich. Sein Bericht wurde vom Gericht komplett ignoriert. Sogar in der Anklageschrift wird eingeräumt, dass sich weder anhand der Verbindungsdaten ihres Telefons, ihrer Bankkonten, der Durchsuchungen ihrer Wohnung oder des auf ihren Vater angemeldeten Autos Indizien auf eine Mitgliedschaft in der SPF ergeben. Dennoch gebe es «ernsthafte Hinweise auf Schuld», die jedoch nicht benannt werden, da es völlig ausreicht, auf Iriánnas Beziehung zu ihrem Partner zu verweisen. Sie selbst meldete sich am 5. Juni aus dem Knast zu Wort: «Das ganze paranoide Klima bestätigte meine ursprüngliche Einschätzung, warum ich in den Fall verwickelt werden sollte: In den letzten Wochen wurde nicht nur gegen mich und meinen Mitangeklagten verhandelt, sondern mit uns sass erneut mein Lebensgefährte vor Gericht.»
Endlich – Freiheit für Tásos Theofílou
Der zweite Prozess, der in den vergangenen Monaten in Griechenland für Kontroversen sorgte, war der gegen Tásos Theofílou. Auch dem sich als Anarchokommunisten bezeichnenden Theofílou wurde vorgeworfen, Mitglied der SPF zu sein. In erster Instanz war er wegen angeblicher Beteiligung an einem Bankraub mit fahrlässiger Tötung auf der Insel Páros 2012 zu 25 Jahren Haft verurteilt worden. Sowohl er als auch die Staatsanwaltschaft waren in Berufung gegangen. Auch Theofílou war infolge eines «anonymen» Anrufs verhaftet worden. In den Prozessen konnte ihn keine*r der Zeug*innen als Täter identifizieren. Das einzige Beweisstück war ein Hut mit angeblichen DNA-Spuren von Theofílou, den der Täter während des Banküberfalls getragen und bei einem Gerangel verloren haben soll. Dieser Hut war allerdings nicht am Tatort sichergestellt worden, taucht auf keinem der Tatortfotos auf, und wurde erst Tage nachdem Theofílous Verhaftung als Beweisstück eingeführt. Von Beginn an hatte der Bewegungsaktivist betont, «noch nie auf Páros» gewesen zu sein. «Das einzige Mal, dass ich in meinem Leben in Kontakt mit einer Waffe kam war, als mir die Antiterrorbullen bei der Verhaftung die Maschinenpistole an die Schläfe drückten.» Für die Verfolgungsbehörden und die Massenmedien sei er einzig auf Grund seiner Identität als anarchistischer Aktivist schuldig.
Thousands March for Political Prisoner Tasos Theofilou in Athens, Greece from Unicorn Riot on Vimeo.
Nach fünf Jahren im Knast und einer durchgängig anhaltenden Solidaritätskampagne wurde Tásos Theofílou am 7. Juli 2017 unter grossem Jubel und lauten Parolen im Gerichtssaal von allen Anklagepunkten freigesprochen. In einer ersten Stellungnahme schreibt Theofílou am 12. Juli 2017: «Die Tiefe meiner Dankbarkeit für all die Menschen, die mich auf welche Art auch immer in all den Jahren unterstützt haben, geht weit über das hinaus, was ich heute auszudrücken in der Lage bin. Gleichzeitig geht die Bedeutung dieses Freispruchs von allen Anklagepunkten weit über die meiner persönlichen Rehabilitierung hinaus. Es ist ein Sieg der kämpferischen Menschen gegen die Repression. Ein Sieg derjenigen von unten gegen den tiefen Polizeistaat. Ein Sieg der Alternativ- und Bewegungsmedien gegen die herrschenden Massenmedien. Ein Sieg der Gegeninformation gegen die Propaganda des Regimes. Ein Sieg der Bewegung über die Verdorbenheit der Herrschaft. […] In diesem Sinne ist die Entscheidung gleichzeitig eine erste Grenzziehung gegen die Konstrukte der «Antiterroreinheiten» und ihrer Verfolgungsindustrie, deren Speerspitzen der Paragraf 187a (Antiterrorgesetz) und das pseudowissenschaftliche Beweismittel DNA darstellen.»
«Feuerzellen» als Passepartout
Was Theofílou anspricht ist erst seit kurzem auch bei bürgerlichen Griech*innen Thema. Waren wie bisher nur Anarchist*innen betroffen, und beschränkte sich die jeweilige Solidaritätsbewegung auf linksradikale und anarchistische Gruppen, wird seit der Verurteilung Iriánnas recht breit über Polizeimethoden und die mangelnde Unabhängigkeit der griechischen Justiz diskutiert. Sowohl in den Prozessen gegen Theofílou als auch in Iriánnas Fall, war das von der «Antiterrorpolizei» gelieferte, entscheidende «Beweisstück», eine dubiose DNA-Spur. Beide Beschuldigten wurden als angebliche Mitglieder der SPF kriminalisiert. Vielleicht führt diese Diskussion nun dazu, die bisherige Unhinterfragbarkeit des Beweismittels DNA und die Konstrukte der «Antiterroreinheiten» ins Wanken zu bringen.
Die Verschwörung der Feuerzellen tauchte erstmals Anfang 2008 auf. Die Gruppe mit insurrektionalistischem und nihilistischem Charakter hat seither Anschläge auf griechische und europäische Politiker, Banken, Konzerne, Gefängnisse, Polizeiwachen und Gerichte verübt. Vor allem nach der Ermordung des 15-jährigen Aléxandros Grigorópoulos durch Polizeibeamte am 6. Dezember 2008 war es zu einer wahren Welle von Brandanschlägen, militanten Angriffen, organisierten Plünderungen, Strassenkämpfen mit der Polizei und Aktionen des zivilen Ungehorsams gekommen. Viele sahen darin einen «Aufstand der Jugend» oder einen «sozialen Aufstand» in Griechenland, zu deren militantesten Akteuren die SPF zählten. Zu ersten Verhaftungen, Prozessen und Verurteilungen von Mitgliedern der Gruppe kam es im Laufe des Jahres 2009. Polizeiquellen platzierten damals die Zahl von 100 bis 120 Mitgliedern der SPF in den griechischen Medien, was in der Folge die Möglichkeit eröffnete massenhaft Menschen zu verfolgen und unter Terroranklage zu inhaftieren. Abgesehen von der Organisation selbst hatte die Kampagne all jene Jugendlichen zum Ziel, die immer zahlreicher in der anarchistischen Bewegung und im Athener Szeneviertel Exárchia auftauchten und sich weder vom Staat, noch von den alteingesessenen Gruppen linker, linksradikaler oder anarchistischer Strömungen kontrollieren liessen. Die SPF lobte all diejenigen, «die den rebellischen Geist vom Dezember teilen und nicht aufhören, den Staat anzugreifen». Unabhängig davon, ob sie der Gruppe ideologisch nahestehen, wurden bis heute knapp 50 Menschen wegen Mitgliedschaft in der SPF kriminalisiert, verfolgt, verhaftet und teilweise abgeurteilt. Zwar mussten die meisten nach kürzerer oder längerer Untersuchungshaft wieder freigelassen werden, andere jedoch wurden in teils haarsträubenden Verfahren vergeurteilt und inhaftiert. Die zehn bekennenden Mitglieder der SPF wurden zu jahrzehntelangen Haftstrafen verurteilt.
Justizminister heuchelt Empörung
Das Urteil gegen Iriánna hatte einen öffentlichen Aufschrei zur Folge. Musiker*innen, Hochschulprofessor*innen, mehrere Abgeordnete, unter anderem der Regierungspartei Syriza, unterstützten in Stellungnahmen, Petitionen und mit Unterschriftensammlungen die junge Frau. Selbst Justizminister Stavros Kontonís (Syriza) äusserte sich negativ über das Urteil und forderte die Richter auf, so bald wie möglich ihre Urteilsbegründung zu veröffentlichen. Peinlich nur, dass er selbst erst kürzlich einen Gesetzentwurf eingebracht hatte, der vorsah eine Reihe von «Delikten» künftig als «terroristische Akte» zu werten. Wie die Fragen der Richter im Prozess gegen Iriánna betrafen diese» Delikte» ausschliesslich persönliche Beziehungen, Bekanntschaften, Meinungsäusserungen und Moral. Nach breiten Protesten, u.a. drangen Mitglieder einer anarchistischen Gruppe mit Flugblättern und Transparenten ins Parlament ein, musste er den Gesetzentwurf vorerst zurückziehen. Sollte die Änderung des Gesetzes so oder in ähnlicher Form erneut eingebracht werden, könnten in Zukunft noch mehr Menschen wegen «Terrorismus» verurteilt werden.
Titelbild: Unicorn Riot