Wie der Zürcher Historiker Philipp Sarasin die Arbeiter*innenklasse aus der jüngeren Geschichte verschwinden lässt und dabei vor allem über sich selber spricht.
Philipp Sarasin ist Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich und als solcher weiss er selbstverständlich zu allerhand Dingen Gewichtiges zu sagen. So hat er mehrere Bücher zum französischen Vieldenker Michel Foucault publiziert und gilt als profunder Kenner dessen Werks. Es wäre relativ unbedeutend und darum gut gewesen, wenn der umtriebige Professor einfach ein weiteres Buch seiner Reihe hinzugefügt hätte, auf dass es im Feuilleton wiederum gefeiert und verrissen hätte werden können. Aber Philipp Sarasin ist eben auch Mitherausgeber von «Geschichte der Gegenwart», einem Onlinemagazin, das laut eigenen Angaben nach seiner Lancierung aus dem Stand über 50’000 Aufrufe erzielt hat – also ein gewisses Publikum erreicht. Auf dieser Plattform werden immer wieder lesenswert die oftmals ziemlich irrigen Vorstellungen in unserer Gesellschaft zurechtgerückt und bevorzugt der sogenannte Rechtspopulismus kritisiert. Das hat den Herausgeber*innen den eifernden Groll der versammelten rechten Presse bis hin zur ehrbaren NZZ eingebracht. Auf eben dieser Plattform will Sarasin nun in einem Artikel auch einige vermeintliche Fehlannahmen über die «68er» und die Arbeiter*innenklasse – die er ebenfalls nur in Anführungszeichen auftreten lässt – berichtigen. Dabei lernt man leider ziemlich wenig über den Gegenstand, aber dafür einiges über interessengeleitete Missverständnisse.
Historiker Philipp Sarasin: Ziel rechter Hetze und Verleumdung, Produzent wackliger Thesen
«Traditionelle» Arbeiter*innen und die Ausbeutung aller
Um zu verstehen, worum es Sarasin geht, muss man seinen Text vom Fazit her lesen: Die Linke habe keine moralische Schuld daran, dass sich einige Teile des Proletariats den rechten Parteien wie der AfD oder dem Front National an den Hals werfen würden. Und sie dürfe nicht den Fehler machen, den «traditionellen» Arbeiter oder die «Nation» wiederentdecken zu wollen, sondern müsse «die Unterdrückungs- und Ausbeutungserfahrungen aller Teile der Gesellschaft artikulieren», so Sarasin. Das Unterfangen scheint also löblich: Die Linke soll gegen einen unsinnigen Vorwurf verteidigt und zugleich vor politischen Irrwegen bewahrt werden. Tatsächlich gibt es kein «moralisches Versagen» und die Abkehr jener Teile der Linken, die sich vormals an der Arbeiter*innenklasse orientiert hatten, ist vorrangig in den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen zu suchen und nicht in einem selbstverschuldeten Unvermögen: Nachdem über viele Jahrzehnte die Gewerkschaften und die politischen Parteien der Arbeiter*innenbewegung sukzessive politisch anerkannt und integriert worden waren, stieg nach dem Zweiten Weltkrieg das Lebensniveau der Proletarisierten. Die einst mal klar erkennbaren und tendenziell um die Fabriken zentrierten Arbeiter*innenmilieus begann sich in eine recht eindimensionale Gesellschaft aufzulösen, die gesellschaftlich klar erkennbaren Konfliktlinien entlang der Klassen bekamen einen anderen Verlauf. Dazu kam, dass die Linke dann im Zuge der Krise nach 1973 und den folgenden Angriffen den Kampf um ihr sozial-ökonomisches Programm weitgehend verlor und sich zunehmend auf anderen Terrains gegenüber der politischen Konkurrenz profilieren musste: Die geschichtliche Tendenz führte weg vom linken Fokus auf Arbeiter*innen, hin zu einer liberalen und diversen Gesellschaft, wenn gleich natürlich strategische Entscheidungen auch anders hätten gefällt werden können.
Der Befund von Sarasin ist also im Grossen und Ganzen richtig, auch wenn er verschiedene Begründungsebenen für den beschriebenen Entwicklungsgang Purzelbäume schlagen lässt: So werden die Entwicklung der Produktivkräfte, die Verschiebung des gesellschaftlichen Diskurses und das Auftreten neuer linker Akteur*innen additiv dargestellt, statt sie in ihrer hierarchischen Vermittlung zu fassen. Die technologische Revolution der 1970er spielt aber eben eine ganz andere Rolle im geschichtlichen Prozess als etwa der gesellschaftliche Diskurs über die Umweltzerstörung, den Sarasin als einen von fünf Gründen behandelt.
Die veränderten Verhältnisse sind der Grund, warum man sich tatsächlich nicht an einem überlieferten aber eben auch überkommenen Bild der Arbeiter*in und der Arbeiter*innenklasse orientieren sollte. Sarasin nennt das den «traditionellen» Arbeiter. So weit, so gut. Dann geht aber der Gaul mit dem Historiker durch: Das Proletariat als «Klasse» – natürlich begegnen wir hier wieder den vertrauten Anführungszeichen – löste sich auf, folgert er mit Verweis auf André Gorz’ «Abschied vom Proletariat». Hier argumentiert Sarasin bereits anders: Es geht nicht mehr um die Abkehr vom Proletariat, sondern darum, dass sich dieses selber als Klasse auflöst. Es geht also nicht einfach um eine Abkehr vom «traditionellen» Arbeiter, sondern darum sich von der Klasse überhaupt zu verabschieden beziehungsweise im vorliegenden Falle den längst vollzogenen Abschied zu zementieren.
Moderne Arbeitsplätze in Jacques Tatis Playtime von 1967
Darum entledigt sich Sarasin im Vorbeigehen auch noch eines Begriffs, der in der marxistisch orientierten Linken eine wichtige Rolle spielt: Die Ausbeutung. Wenn alle Teile der Gesellschaft – also vermutlich auch der Professor selbst – ausgebeutet werden, wie er schreibt, dann wird eigentlich niemand mehr richtig ausgebeutet. So verliert der Begriff seine Schärfe und vor allem seine Funktion für ein strukturiertes Verständnis der kapitalistischen Gesellschaft. Diese beruht eben nach wie vor fundamental auf der Akkumulation von Kapital, also auf der Auspressung von Mehrwert aus den produktiven Arbeiter*innen, ob diese nun in der Fabrik, im Callcenter oder in einer der unzähligen Dienstleistungsklitschen arbeiten. Hier rächt sich Sarasins soziologischer Klassenbegriff. Klasse ist nicht einfach die Bezeichnung einer sozialen Gruppe, sondern ein Begriff, der die Funktionsweise des Kapitalismus offenlegt: Ausbeutung, Akkumulation, Krise. Dies darf aber natürlich nicht heissen, dass man die Interessen und Unterdrückungserfahrungen anderer subordinierter Teile der Gesellschaft nicht ernst nimmt oder sie als «Nebenwiderspruch» abtut – denn eine Gesellschaft in der alle nach ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten leben können, ist nur zu realisieren, wenn gemeinsam alle Formen der Unterdrückung überwunden werden. Bloss haben Klasse und Ausbeutung einen anderen logischen Ort im Kapitalverhältnis als etwa Rassismus oder Sexismus, auch wenn in letzter Zeit mit dem Gerede vom «Klassismus» die wichtige Differenz eingeebnet zu werden droht.
Die Arbeiter*innenklasse: unwillig und ohnehin Schnee von gestern
Dass Philipp Sarasin Professor ist, ist hier – im Gegensatz zur vom antiintellektuellen Ressentiment getriebenen «Kritik» von Weltwoche und Konsorten – nicht von Belang, weil der Mann Geld bekommt, um über Dinge nachzudenken. Es ist von Bedeutung, weil der nicht gerade aus proletarischen Verhältnissen stammende Historiker kurzerhand seine eigene soziale Position für selbstverständlich nimmt und aus dieser Warte das Proletariat als Subjekt aus der jüngeren Geschichte verschwinden lässt. Es tritt bei ihm heute höchstens noch als Gruppe von Claqueuren der Rechten auf, was angesichts der Wählerzusammensetzung von AfD, FPÖ und auch der SVP tatsächlich in der Realität fundiert ist – aber eben nur die halbe Wahrheit.
So wird bei Sarasin in der Retrospektive klar: Eigentlich waren die «wirklichen Interessen» – wie er das nennt – der Arbeiter*innen schon immer notwendig immanent und das Potential, das Kommunist*innen und Anarchist*innen im Proletariat vermuteten, eine reine Fiktion. Der Geschichtsprofessor wendet hierbei ein paar ziemlich durchschaubare Tricks an: Er konzentriert sich zum einen auf Deutschland und lässt den heissen Herbst in Italien 1969 und die folgenden Jahre sowie den Pariser Mai des Jahres 1968 und seine Nachwirkungen – letzterer wird bloss in einem Nebensatz erwähnt – unter den Tisch fallen; Frankreich und Italien sind beides Länder, die riesige Bewegungen von recht «traditionellen» Arbeiter*innen auch und gerade gegen deren traditionelle Institution wie kommunistische Partei und Gewerkschaften gesehen haben. Und selbst in Deutschland lässt Sarasin die recht grosse Lehrlingsbewegung verschwinden und erwähnt auch die Septemberstreiks des Jahres 1969 nicht. Sein Befund ist deshalb klar: In der gesellschaftlich relevanten Dimension seien die Ereignisse um das magische Jahr 1968 eigentlich kultureller Natur gewesen, der «politisierte Höhepunkt der Kulturrevolution der 1960er Jahre».
Allein bei Fiat in Turin streikten 1969 rund 30’000 Arbeiter*innen
Und wo es politisch wird? «Die Arbeiterklasse will nicht», lautet ein Zwischentitel von Sarasins kleiner Abrechnung eindeutig. Bloss das Denken der Neuen Linken sei auf die Arbeiter*innenklasse bezogen gewesen, diese selbst aber unwillig zur radikaleren gesellschaftlichen Veränderung. In ihrer Zusammensetzung war die Bewegung vor allem «ein Aufstand von KopfarbeiterInnen gegen die veralteten Produktionsverhältnisse intellektueller Tätigkeit», so der Historiker. Als Kronzeuge lässt er Rudi Dutschke auftreten. Dieser soll nach seinen Zielen vor Ort gefragt, «nicht zuletzt mit der Forderung nach einer anderen Organisation von Seminaren» geantwortet haben. Jener Rudi Dutschke, der – vermutlich auch «nicht zuletzt» – das Modell einer Räterepublik Westberlin entworfen hatte, stammte aus einer proletarischen Familie. Das hat nicht als Adelstitel zu gelten, sondern ist darum von Belang, weil Dutschke proletarische Lebenserfahrung an die Universität mitbringt. Sarasin biegt sich hier nicht nur ein Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) zum Seminar-Reformer zurecht, sondern stolpert über die mit einigen traditionsbewussten Marxist*innen geteilte enge Fassung der Arbeiter*innenklasse: Es wäre eben gerade zu klären, welche Veränderungen das Proletariat erfahren hat, das ab den 1960ern nicht nur teilweise Zugang zu den Hochschulen erhalten hatte, sondern auch auf etliche Jahre steigender Einkommen blicken konnte.
Die Arbeit mit dem Kopf und die Bewegung im Handgemenge
Im Begriff der Kopfarbeiter*in scheint Sarasin kurz ein Interesse an der veränderten Klassenzusammensetzung aufblitzen zu lassen, um es dann in einem spöttischen Rückblick gleich wieder zu kassieren: «Die ‹Energie› der Jugend- und Studentenrevolte sollte sich, so die Hoffnung, mit den ‹objektiven› Interessen der ‹Arbeiterklasse› verbinden und zur eigentlichen Revolution führen, jene, die den ‹bürgerlichen Staat› zerschlagen und in Verbindung mit den Befreiungsbewegungen im Weltmassstab ‹siegen› würde», lässt er die Leser*in an den Irrtümern der 68er teilhaben. Wieder diese Anführungszeichen: Sie sollen hier die Begriffe dem Spott des geneigten Publikums Preis geben. Statt sich aber über tatsächlich mehr als wacklige linke Konstruktionen wie «objektive Interessen» lustig zu machen (bei Sarasin gibt es dann die entgegengesetzten und ebenso fragwürdigen «wirklichen Interessen») oder blankes Unverständnis über den Begriff des bürgerlichen Staates zur Schau zu stellen, hätte sich der Professor auch fragen können, was denn der Auftritt der Kopfarbeiter*innen für die Klassenzusammensetzung überhaupt bedeutet. Stattdessen schliesst er deren Erscheinen mit der «Wissensgesellschaft» kurz, um über den Kapitalismus und die Klassendimension nicht mehr sprechen zu müssen.
Ulrike Meinhof schrieb 1968 noch hauptsächlich vernünftige Dinge.
Es ist von nicht wenigen Kopfarbeiter*innen der damaligen Zeit zu lernen, dass etwa das teleologische Geschichtsbild des traditionellen Marxismus oder die krude Behauptung, die Arbeiter*innenklasse sei ihrem Wesen nach revolutionär, nicht zu halten sind. Aber dass man zugleich das Potential des Proletariats nicht einfach wie Sarasin mit einem kleinen Taschenspielertrick aus der Welt schaffen kann.
Es ist kein Zufall, sondern entweder Unkenntnis oder interessengeleitete Unterlassung, dass jene keine Erwähnung finden, die sich um 1968 der rücksichtslosen Reformulierung einer Theorie der Revolution – die zugleich Theorie der Klasse ist – widmeten und sich ins gesellschaftliche Handgemenge einmischten. Um nur ein paar Namen zu nennen: Hans-Jürgen Krahl, neben Rudi Dutschke eine der SDS-Gallionsfiguren, versuchte im Anschluss an die Kritische Theorie eine Rekonstruktion der Theorie der Revolution unter den Bedingungen eines fortgeschrittenen Kapitalismus. Johannes Agnolis «Transformation der Demokratie» war eine radikale Abrechnung mit dem modernen Parlamentarismus und wurde zur «Bibel» der damaligen Ausserparlamentarischen Opposition (APO). Agnolis Co-Autor Peter Brückner formulierte zeitgleich eine umfassende Sozialpsychologie des Kapitalismus, in der er sich mit den subjektiven Bedingungen von Zustimmung und Auflehnung befasste. Herbert Marcuse schliesslich galt unter den Spätmarxisten am Frankfurter Institut für Sozialforschung als jener, der mit der Bewegung persönlich verbunden war. Er versuchte ebenfalls die Idee der Revolution zu reformulieren; ohne die Klasse zu verabschieden – was oftmals fälschlich behauptet wird. Zudem gab es die Bemühungen etlicher Autor*innen aus der Vor- und Entstehungsgeschichte der Neuen Marx-Lektüre, etwa die Klasse unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen zu fassen (zum Beispiel in den Prokla-Ausgaben der 1970er-Jahre).
Herbert Marcuse: «Ich habe nie gesagt, dass die minoritären Gruppen die Arbeiterklasse als Subjekt der Revolution ersetzen könnten.»
Da Italien und Frankreich bei Sarasin schlicht keine Rolle spielen, sei nur am Rande darauf hingewiesen, dass in den beiden Ländern zwei recht einflussreiche revolutionäre Strömungen mit Fokus auf die Proletarisierten in den Bewegungen um 1968 bedeutend wurden: der Operaismus in Italien und die Situationisten in Frankreich.
Der Richterspruch als Selbstkritik
Das waren nun alles nicht einfach isolierte Intellektuelle. Sie waren Teil einer Bewegung, die die Frage um’s Ganze immerhin stellen wollte und in der auch Teile des Proletariats eine wichtige Rolle spielten. Wenn man aber die Arbeiter*innenklasse nur als das grosse historische Metasubjekt begreift, das es bei einigen Linken lange Zeit war und an deren Anspruch auch Sarasin die Proletarisierten zu messen scheint, dann wird man in der Retrospektive immer zum Schluss kommen, dass «die Arbeiterklasse» nicht wollte. Es sei denn, es klappt tatsächlich mal mit der sozialen Revolution. Aber dann stehen ohnehin andere Debatten an. Stattdessen wäre die Klasse gerade in ihrer empirischen Beschaffenheit ernst zu nehmen – was übrigens auch vielen klassenorientierten Radikalen schwer fällt – und zu untersuchen, welche Fraktionen, Bruchlinien und Interessen bestehen und welche Folgen das für den Versuch radikaler Umwälzung bedeutet.
Möglicherweise sind die blinden Flecken einem interessierten Blick von Sarasin geschuldet. Vielleicht aber kennt er die genannten Strömungen einfach nicht, der Mann ist schliesslich auch nur Professor. Als solcher kann er nicht alles wissen, auch wenn er zu allem was zu sagen hat. Folgerichtig verkürzt er die Bewegung um 1968, nachdem er sie schon kunstvoll auf Deutschland eingeschränkt hat, auch noch auf ihren Bezug zu den antikolonialen Befreiungsbewegungen und auf ihr vermeintliches Bemühen, «die Kulturrevolution, die sich gerade ereignete, an den theoretischen Rahmen der Revolutionskonzepte von Marx, Lenin und Rosa Luxemburg zurückzubinden.» Und so nimmt er dann den Zerfall der Bewegung und einiger ihrer Theoretiker zum K-Gruppen-Elend zum Anlass, um über die frühen und auch späteren Versuche der Klärung und des Ansturms in der Summe ein vernichtendes Urteil zu fällen – zumindest aus Sicht einer radikalen Veränderung der Gesellschaft. Näher besehen ist das nun eigentlich gar nicht tragisch, sondern eher komisch, stellt sich das Urteil doch als eines über Sarasin selbst heraus.