Das Migrationsregime zeigt sich grausam wie eh und je. Während sich die Mehrheit der Bevölkerung in ihr Zuhause zurückzieht, werden Asylsuchende weiterhin eingesperrt. Gesundheitliche Richtlinien scheinen für sie nicht zu gelten. Alternativen zum repressiven Asylregime gäbe es genug, wie die Forderungen zahlreicher Protestaktionen der vergangenen Wochen beweisen.
Die Corona-Pandemie stürzt Staaten rund um den Globus in eine gesundheitspolitische und ökonomische Krise – das Virus hat die ganze Welt in seinen Bann gezogen. Trotz des globalen Ausmasses suchen Staaten und ihre Regierungen nationale Antworten. Nicht selten dreht sich die Antwort um ein Wort, das für die meisten politischen Entscheidungsträger*innen noch bis vor kurzem gar unmodisch war: Solidarität. So auch in der Schweiz. So schön es ist, wenn jetzt das Nachbarskind von nebenan die Einkäufe des älteren Ehepaars im obersten Stock erledigt – die Sache hat einen Haken: Diese Art der Solidarität hat viele blinde Flecken. Illegalisierte Menschen, Gefängnisinsass*innen, Bewohner*innnen von Asyllagern – sie alle haben keine Nachbar*in, die ihnen das Nötigste besorgt. Im Solidaritätspakt finden sie keinen Platz, denn dieser orientiert sich am institutionellen Rahmen der parlamentarischen Politik, der bestimmte Kategorien bewusst ausschliesst. Im Nationalstaat wird ihnen Rolle und Ort zugewiesen, die von der Solidarität praktisch ausgeschlossen sind – und die politisch kaum zur Verhandlung stehen. Nationalistische, rassistische, kapitalistische und sexistische Bewertungslogiken legen fest, wer zum solidarischen «Wir» dazu gehört – und wer nicht.
Menschen, die in der Schweiz um Asyl ersuchen, illegalisiert sind oder einen ungeklärten Aufenthaltsstatus haben, sind schon vor der Corona-Pandemie von der parlamentarischen Politik marginalisiert worden. Besonders stark trifft es Menschen mit einem abgelehnten Asylgesuch, die entweder «freiwillig» ausreisen oder ausgeschafft werden sollten. Diese Marginalisierung ist nicht erst seit Corona unhaltbar, doch sie wird nun viel sichtbarer. Behörden und realpolitische Akteur*innen zeigen jetzt ihr wahres Gesicht: Neben wenigen kleinsten Verbesserungen bleibt die generelle Stossrichtung das, was sich die letzten Jahre für Asylsuchende als traurige Normalität erwiesen hat – eine Verschlechterung ihrer Lebensumstände.
Das Ajour Magazin hat verschiedene Behörden kontaktiert, um den aktuellen Stand rund um Ausschaffungen und Asylcamps zu erfragen. Die Antworten zeugen vom politischen Unwille, nachhaltig etwas an den gegenwärtigen Zuständen zu ändern. Gleichzeitig zeigen sie auf, wie wichtig der vehemente Widerstand gegen Inhaftierung und Illegalisierung sind.
Kantonale Unterschiede bei der Ausschaffungshaft
Am 25. März hat der Bundesrat alle Schengen-Staaten ausser Liechtenstein zum Corona-Risikogebiet erklärt. Ab diesem Zeitpunkt sind deswegen alle Ausschaffungen in Dublin-Staaten vorübergehend eingestellt worden. Laut SEM hat die Anzahl der «Ausreisen und insbesondere der zwangsweisen Rückführungen» im März im Vergleich zum Vormonat um rund 40% abgenommen. Ausschaffungen in Herkunftsstaaten seien nach wie vor möglich, jedoch «stark eingeschränkt». Gemäss SEM-Sprecherin Emanuelle Jaquet von Sury wurde im April bisher keine Ausschaffung aus der Schweiz durchgeführt (Stand 7. April 2020).
Die sogenannte ausländerrechtliche Administrativhaft umfasst die Vorbereitungshaft, Ausschaffungshaft, Dublin-Haft und Durchsetzungshaft. Für den Vollzug der Administrativhaft sind die Kantone zuständig, weshalb sich die Rahmenbedingungen kantonal unterscheiden. Der Vollzug einer Ausschaffung in absehbarer Zeit wird als Grund für eine Administrativhaft angeführt. Da in Zeiten von Corona jedoch kaum noch Flugzeuge fliegen, oder sich das Schweizerische Personal wegen gesundheitlicher Bedenken weigert, einen Ausschaffungsflug zu «begleiten», ist der eigentliche Haftgrund oft hinfällig. Da für den Vollzug der Administrativhaft die Kantone zuständig sind, weist der Umgang mit den sich verändernden Rahmenbedingungen kantonal grosse Unterschiede auf. Nach Angaben der Behörden befindet sich aufgrund des hinfälligen Haftgrundes in Genf keine einzige Person mehr in Ausschaffungshaft. Auch der Kanton Bern hat 14 Personen aus der Administrativhaft entlassen. In Basel und Zürich hingegen zeichnet sich ein anderes Bild ab. Dort sitzen weiterhin Menschen in Haft: In Basel 7 Personen, in Zürich nach der kürzlichen Entlassung von sieben Dublin Häftlingen noch 47. Bei der Adminstrativhaft besteht also ein grosser politischer Spielraum. Und es lässt sich festhalten: Zürich erweist sich als der restriktivste Kanton von allen. Umso irritierender erscheint es, dass sich die Zürcher Sicherheitsdirektion und das ihr angehörige Sozialamt gegenüber verschiedenen Medien in Schweigen hüllen – so auch gegenüber dem Ajour Magazin. Auch nach mehrfachem Nachfragen blieb der Fragenkatalog unbeantwortet.
Prekäre Zustände in Asyllagern
Die Pandemie wirkt sich aber nicht nur auf die Situation in den Ausschaffungsknästen und der Ausschaffungen aus. Auch die Realitäten der Insass*innen der Asyllager haben sich in den letzten Wochen verändert. Das nahe Aufeinanderleben in den Lagern verunmöglicht eine ernsthafte, geschweige denn selbstbestimmte Umsetzung der Auflagen des Bundesamtes für Gesundheit (BAG). Massnahmen wie der verfügte Mindestabstand von zwei Metern oder die maximale Gruppengrösse von fünf Personen können nachweislich nicht eingehalten werden. Foto- und Videoaufnahmen zeugen von dutzenden Personen in einer Küche und von Zimmern mit bis zu 10 Bewohner*innen.
Dagegen formte sich in den vergangenen Wochen Protest. So traten Bewohner*innen der Lager an verschiedene Medien heran, um auf die unhaltbaren Zustände in den kantonalen Notunterkünften hinzuweisen und eine sichere Unterbringung zu fordern. Ihre Stimmen wurden von manchen Medien aufgenommen, so berichtete der Tagesanzeiger in mehreren Artikeln über die geschilderten Zustände. Auch die SRF-Rundschau sendete Aufnahmen aus dem Innern der Lager. Anschliessende, mutige Forderungen fanden in diesen Artikeln jedoch meistens keinen Platz. Zu oft kam das letzte Wort aus dem Mund von SP-Asylhardliner Mario Fehr oder SEM-Mitarbeitenden wie Daniel Bach, die die Situation beschönigten oder nicht näher auf die Vorwürfe eingingen. Sowohl auf Seite der Bewohner*innen von Asyllagern als auch in aktivistischen Kreisen mangelt es jedoch nicht an glasklaren Forderungen – höchste Zeit, sich diesen zu widmen:
Am 4. April besammelten sich Aktivist*innen der Kampagne #Riseagainstborders vor dem Berner Medienhaus. Während einer bundesrätlichen Pressekonferenz im selbigen Gebäude hielten sie eine Rede, um auf die Situation von Menschen auf der Flucht und Asylsuchenden in der Schweiz und anderen Ländern aufmerksam zu machen. Ihre Forderungen: Die unverzügliche Freilassung aller Gefangenen in Administrativhaft. Die Aufnahme von Geflüchteten, die momentan auf den griechischen Inseln und im griechisch-türkischen Grenzgebiet festgehalten werden. Öffnung der Grenzen. Schliessung der Camps. Würdige Wohnverhältnisse für alle. Aktivist*innen haben diesen Forderungen zudem in Form von Transparenten, Plakaten und Briefaktionen in verschiedenen Städten Ausdruck verliehen.
Mit ähnlichen Inhalten hat das Solidaritätsnetz Bern eine beachtliche Kampagne lanciert, die sich direkt an die Bevölkerung richtet: Sie appelieren an eine solidarische Zivilgesellschaft, um den Isolationszentren durch die private Unterbringung geflüchteter Menschen etwas entgegenzusetzen. Zu ähnlichem Zweck besetzten Aktivist*innen in Zürich kürzlich vier Häuser. «Solidarität schliesst alle Menschen ein und hört nicht beim eigenen Gartenzaun, im eigenen Quartier, im eigenen Umfeld oder Land auf.», heisst es in ihrem Communiqué. Die klare Forderung dahinter: «Für alle ein Zuhause. Für alle die Möglichkeit, sich zu schützen. Für alle eine gesicherte Existenz. Alle Lager und Gefängnisse – sofort schliessen.» Die Besetzer*innen laden Hauseigentümer*innen ein, ihre leerstehenden Liegenschaften zu öffnen. Sie fordern die Abschaffung von Airbnb’s, die Öffnung von Hotelzimmern und die Besetzung leerstehender Liegenschaften.
Repression als Antwort von Behörden und Politik
Solche Aktionen greifen nicht nur in den dominanten Solidaritätsdiskurs ein. Sie zeigen auch die Absurdität der profitorientierten Verteilung von Wohnraum auf: Während vor Corona Tourist*innen jederzeit zu Vergnügungszwecken in Airbnb-Wohnungen und Hotelzimmer unterkommen konnten und Immobilienbesitzer*innen nach wie vor Wohnraum für den privaten Profit horten, werden Asylsuchende in heruntergekommenen Barracken und unterirdischen Bunkern untergebracht. Statt ihnen im Zuge der Krise leerstehende Wohnungen oder Hotelzimmer zur Verfügung zu stellen, transferierte das SEM einige Asylsuchende in Basel kürzlich in einen unterirdischen Bunker. In Zürich wohnen nach wie vor Personen unter widrigsten Umständen unter der Erde und in dürftigen Barracken in Hinteregg, Kemptthal, Adliswil oder Urdorf. Dass die Sozialdemokratische Partei (SP) des Kantons Zürich sich jetzt plötzlich gegen den Notunterkunfts-Bunker in Urdorf stellt, ist dabei nichts anderes als Imagepflege. Dieselbe SP hat die schleichenden Verschärfungen im Asylwesen stets mitgetragen und jahrelang an ihrem Hardliner Mario Fehr festgehalten.
Die Proteste blieben von den Sicherheitskräften und den politischen Entscheidungsträger*innen nicht unbeantwortet. Am 16. April wurden bei einer wiederholten Kundgebung der Kampagne Rise Against Borders anlässlich der Corona-Bundespressekonferenz vor dem Medienhaus in Bern alle anwesenden Personen von der Polizei eingekesselt und wegen einer Zuwiderhandlung gegen das Pandemiegesetz gebüsst. In Zürich verhinderte die Polizei am 18. April eine geplante und angekündigte Autodemo. Es wurden Traktoren und Autos beschlagnahmt – und das alles nachdem Mario Fehr die Kundgebung gegen die von ihm betrieben Politik öffentlich kritisiert hatte. So funktioniert Demokratie zu Corona-Zeiten: Politisch unliebsame Veranstaltungen werden mit Verweis auf das Pandemiegesetzt verboten, selbst wenn die verfügten Schutzmassnahmen eingehalten werden. Das zeigte nicht zuletzt auch das rabiate Vorgehen der Polizei gegen AktivistInnen der Seebrücke-Vernetzung, die am 5. April unter dem Slogan #Leavnoonebehind auf dem Bürkliplatz und Helvetiaplatz Kundgebungen abhielten und die Aufnahme von Asylsuchenden aus den griechischen Lagern forderten. Auf dem Helvetiaplatz rief die Polizei gar die Feuerwehr, um mit abwaschbarer Farbe aufgezeichnete Markierungen reinigen zu lassen. Die Kosten für den Einsatz müssten die Aktivist*innen bezahlen, meinten die Beamt*innen. Das volle Mass an Repression gegen jede Form des Protests.
Ungeachtet der repressiven und politischen Reaktionen der Behörden fordern aktivistische Kreise weiterhin die Schliessung aller Lager und rufen zu weiteren Aktionen auf. Die praktische Solidarität, die in den letzten Wochen in der Form zahlreicher Aktionen und Initiativen aus allen Ecken gesprossen ist, kommt von unten. Sie ist erst dann echt, wenn sie alle mitdenkt. Im Kontext des Asylwesens können Forderungen wie die Evakuierung der Asylzentren nicht alleine stehen, weil die Behörden diese sonst in ihrem Sinne auslegen. Um das zu verhindern braucht es zwingend Alternativen zu den aktuellen Zuständen. Diese finden sich aber nur ausserhalb des gegenwärtigen Migrations- und Wirtschaftsregimes, denn dieses hat die genannten Probleme erst möglich gemacht.