Von der Corona-Pandemie über die alltägliche Luftverschmutzung bis hin zum rassistischen Polizeimord an George Floyd. Die Gastautorin Rosa Luna reflektiert über unsere Gegenwart, in der selbst das Atmen zum Politikum wird.
Wenn gar nichts mehr geht, meditiere ich. Ich verbringe Stunden damit, dazusitzen und meinen Atem zu beobachten. Das sanfte Kitzeln des Einatmens an den Nasenflügeln, das Weiten des Brustkorbes, das langsame Ausatmen. Wer seinen Atem bewusst verlangsamt, stimuliert den Parasympathikus. Dadurch wird die Herzfrequenz verlangsamt, weniger Adrenalin wird ausgeschüttet, das System fährt einen Gang runter.
Der Atem hat für mich in den letzten Monaten eine politische Dimension dazugewonnen. Beim Beobachten des eigenen Körpers wurde ich zur Hypochonderin: fühle ich heute einen Druck auf meinem Brustkasten? Die soziale Verantwortung ist eindeutig. Wer nicht mehr richtig atmen kann, muss zuhause bleiben. Sich isolieren. Niemanden anstecken. Die Luft um uns, unser geteiltes Gut, wird zur Gefahrenzone. «Ich möchte deinen Atem wieder atmen dürfen», schrieb mir letztens eine Freundin. Wie wahr.
Und trotzdem wird auf unser Nicht-Atmen-Können unterschiedlich reagiert – je nachdem, welche Sprache wir sprechen, wie wir aussehen, wie alt wir sind, oder aus welchem sozioökonomischen Umfeld wir stammen. Kayla Williams, eine Londonerin, Person of Colour und Mutter von drei Kindern, ist an den Folgen einer Covid-Erkrankung verstorben. Ihr Partner rief am Tag vor ihrem Tod die Ambulanz und berichtete, Kayla könne nicht mehr atmen. She can’t breathe. Trotz schwerer Atemnot wurde Kayla die Einweisung in ein Krankennhaus verweigert, da sie nicht zur Prioritätsgruppe gehörte. Die mit Covid-19 in Verbindung gebrachten Todesfälle sind von den rassistischen und sozioökonomischen Demarkationslinien des Alltags geprägt. Im Vereinigten Königreich ist die Wahrscheinlichkeit, an Covid-19 zu sterben, für Schwarze viermal so hoch wie für Weisse.
Man kann es ein Privileg nennen, wenn einem die politische Dimension des Atmens erst durch die Coronakrise auffällt. Am 25. Mai wurde der Afroamerikaner George Floyd bei einer Polizeikontrolle auf den Boden gedrückt und neun Minuten so festgehalten. «I can’t breathe!» waren seine letzten Worte. Die rassistische Polizei ermordete ihn, indem sie ihn nicht atmen liessen. «I can’t breathe.» Unter diesem Slogan mobilisierte sich bereits 2014 die Black-Lives-Matter-Bewegung. Damals erwürgte ein Polizist den Afroamerikaner Eric Garner – auch ihm wurde der Atem und das Leben genommen. Der polizeiliche Griff an den Hals rassifizierter Personen ist auch in der Schweiz nicht unbekannt. Es verschlug mir den Atem als ich las, dass die drei Polizisten, die 2009 Wilson A. in Zürich gewürgt und rassistisch beschimpft haben, freigesprochen wurden.
Die Praxis des Sterben-Lassens, des Nicht-Atmen-Lassens, des Ertrinken-Lassens ist seit Jahren Teil der europäischen Flüchtlingspolitik. Es wird in Kauf genommen, dass Menschen nach Schiffbruch statt Luft Salzwasser einatmen und daran ersticken. They can’t breathe. Doch nicht nur das Nicht-Atmen-Lassen, sondern auch das Einatmen falscher Luft kann tödlich sein. In Polen sterben derzeit unterdurchschnittlich viele Personen, trotz Corona. Schlicht und einfach, weil die Fabriken eine Weile stillstanden und die Luft sauberer wurde. Luftverschmutzung nimmt jährlich 4.2 Millionen Menschen das Leben. Diese Zahl wird in den nächsten Jahrzehnten weiter zunehmen. We can’t breathe. Doch wie bei vielem auf dieser Welt sind die Verletzlichsten von der Luftverschmutzung am härtesten betroffen – weil schmutzige Industrien in strukturschwache Regionen mit laxen Umweltgesetzen verlegt werden und privatisierte Gesundheitssysteme nur für die Reichsten die nötige Prävention bieten.
So verhält es sich mit unserem Atem wie mit allen Körperfunktionen: auch das Biologische ist letztendlich gesellschaftlich bestimmt. Ich atme nicht, man lässt mich atmen. Ich genese nicht, man lässt mich genesen. Ich lebe nicht, man lässt mich leben. Jede noch so natürlich anmutende Überlebensfunktion ist eingebettet in soziale Machtstrukturen, die diese zulassen oder verunmöglichen. Oder, wie es Frantz Fanon aus Sicht der «Verdammten dieser Erde» ausdrückt: Wir rebellieren, weil wir aus vielen Gründen nicht mehr atmen können.