Mitte Mai brachten die WOZ und das SRF die brutalen und systematischen Übergriffe von Securitas-Angestellten an Asylsuchenden im Basler Bundesasyllager Bässlergut an die Öffentlichkeit. Seither hat sich einiges bewegt, aber nicht nur im guten Sinn. Basler No-Lager-Aktivist*innen ziehen Zwischenbilanz.
Im Anschluss an die Berichte der WOZ und vom SRF wurde in Zusammenarbeit mit dem Basler Kollektiv «3 Rosen gegen Grenzen» eine umfassende Dokumentationsbroschüre veröffentlicht, in der ein Dutzend Betroffene ausführlich die gewaltvollen Verhältnisse im Lager beschreiben und eigene Gewalterfahrungen teilen.
Die Dokumentationsbroschüre und zahlreiche Beiträge in der lokalen Presse sowie auf Online-Medien machten die gewalttätigen Übergriffe auf die Asylsuchenden im Bundesasyllager Basel einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Die Berichte über die herrschenden Gewaltverhältnisse zeigen auf, dass tiefgreifende Veränderungen nötig sind. In diesem Artikel wollen wir zurückblicken, was sich in den Wochen seit dem Bekanntwerden getan hat.
Scheinlösungen im Bundesasyllager
Während ausserhalb der Lager über die dortigen Zustände gesprochen wurde, wirkten diese gegen innen weiter. Der restriktive Alltag im Lager und die herrschende Gewalt zwangen viele Betroffene, sich dem Lager durch Untertauchen oder Emigration zu entziehen. Ob dies von Behörden beabsichtigt ist, sei dahingestellt, auf jeden Fall erschwert es die juristische Aufarbeitung der Übergriffe ungemein.
In den ersten beiden Wochen nach der Veröffentlichung der Gewalt im Bundeslager Basel berichteten verschiedene Asylsuchende von einer «Entspannung» der Situation im Bässlergut. Die Securitas-Mitarbeitenden würden zurückhaltender auftreten und der morgendliche Weckdienst – ein grosser Konfliktpunkt – würde neu von Mitarbeiter*innen der Betreiber*innen-Firma ORS übernommen. Die Zelle, in der Securitas-Mitarbeitende Bewohner*innen des Lagers systematisch einsperrten und schlugen, sei zwischenzeitlich geschlossen worden. Auch jener Securitas-Mitarbeitende, der Aussagen Betroffener zufolge besonders gewalttätig aufgetreten sei, arbeite zurzeit nicht mehr vor Ort. Dies alles berichten auch Bewohner*innen des Lagers, die nicht im Zusammenhang mit der Dokumentationsbroschüre stehen.
Doch bald wurden diese positiven Nachrichten weniger und verschwanden dann ganz. Offenbar sind nun Umbaumassnahmen geplant mit dem Ziel, künftig auf zwei solcher Zellen zugreifen zu können – inklusive Videoüberwachung. Auch mehrten sich anschliessend wieder Meldungen brutaler Übergriffe in mindestens zwei Lagern im Raum Basel.
So betroffen diese letzte Meldung macht, so sehr war sie zu erwarten. Das Gewaltproblem wird durch die Versetzung bestimmter Angestellten nicht gelöst. Die Verwaltung von Menschen in Lagerstrukturen fordert und fördert systematisch Gewalt. Das bekräftigen auch aktuelle Berichte über die Gewaltvorfälle im Bundesasyllager Giffers bei Fribourg und die Übergriffe im Bundesasyllager Embrach bei Zürich.
Die Rede von der «Verhältnismässigkeit»
«Gegen Personen aus dem Maghreb wird jeden Tag Gewalt verübt. Ich will nicht mehr zurück, lieber schlafe ich draussen.» (Hichem, 08. April 2020)
Nachdem Asylsuchende das Schweigen um die gewaltvollen Verhältnisse im Bundesasyllager gebrochen haben, versuchen die Beteiligten nun ihr Handeln durch Hinweise auf Notwehr zu legitimieren. Dass es zu systematischen Übergriffen kommt, wird noch nicht einmal bestritten und auch, dass diese rassistisch geprägt sind, wird von Mitarbeitenden unverblümt zugegeben (im Video ab 12′ bzw. 9′).
Statt gegen die Gewalt vorzugehen, versuchen Mitarbeitende im Lager und Vertreter*innen des Staatsekretariats für Migration (SEM) die Übergriffe als «verhältnismässig» darzustellen; selbst wenn das Vorgehen der Securitas-Mitarbeitenden schwerste und teilweise lebensbedrohliche Verletzungen bei Betroffenen nach sich zog. In einem SRF-Beitrag verteidigt der Pressesprecher des SEM, Daniel Bach, das Verhalten der Securitas. Er behauptet, diese würden lediglich auf das aggressive Auftreten einiger Bewohner*innen reagieren. Dieser Logik folgen auch internen Rapporte, Polizeiberichte oder Strafbefehlen, die gegenüber einigen Betroffen erlassen worden sind: sie weisen auf die «Verhältnismässigkeit» der vom Sicherheitspersonal gegenüber Asylsuchenden angewendeten Zwangsmassnahmen hin. Das hat System, denn, nur wenn die Übergriffe als «unverhältnismässig» gelten, können sie strafrechtlich geahndet werden.
Zur Verteidigung der Securitas verweisen SEM-Sprecher Daniel Bach wie auch der Bundesrat (Antworten auf die Frage 20.5322 Brenzikofer vom 8. Juni 2020) auf eine Schulung in «transkultureller Kommunikation». Diese müssen alle Sicherheitsmitarbeiter*innen, die im Bundesasyllager eingesetzt werden, absolvieren. Die Schulung wird von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe durchgeführt. Diese distanziert sich jedoch von dem Statement des SEM und des Bundesrats und weist darauf hin, dass der eintägige Workshop keinesfalls eine angemessene Schulung ersetzen könne.
Demokratische Jurist*innen erheben Strafanzeige
Kurz nach der Veröffentlichung der Medienberichte von SRF und WOZ erstatteten die Demokratischen Jurist*innen Basel (DJB) eine Strafanzeige gegen unbekannt. Grund für die Anzeige sieht der Verband unter anderem in der verletzten Obhutspflicht durch die Gewaltanwendung von Securitas-Mitarbeiter*innen gegenüber den Bewohner*innen. Weiterhin kritisieren die DJB in ihrer Pressemitteilung vom 25. Mai 2020, dass die «Gewalt von Asylsuchenden und Gewalt von Securitas-Mitarbeiter*innen nicht mit gleichen Ellen gemessen wird: Während das SEM für Gewaltanwendungen durch Securitas-Mitarbeiter*innen Stresssituationen als entschuldbaren Grund gelten lässt, wird Gewalt seitens der Asylsuchenden konsequent verzeigt.»
Tatsächlich wurden gegen mehrere der gewaltbetroffenen Asylsuchenden Strafbefehle erlassen, zumeist wegen (versuchter) «Gewalt gegen Beamte» oder «Bedrohung von Beamten». Durch diese Praxis erzeugen Securitas-Mitarbeiter*innen, Polizei und Staatsanwaltschaft ein rassistisches Narrativ von gewaltbereiten und latent aggressiven Asylsuchenden und stellen die Gewalt der Securitas-Mitarbeiter*innen als legitime Selbstverteidigung dar. Demgegenüber steht, dass Asylsuchende innerhalb der Lagerstruktur keinerlei Möglichkeit haben, ihre Sicht dokumentieren zu lassen. Diese Täter*innen-Opfer-Umkehr macht eine unvoreingenommene juristische Aufklärung äusserst schwierig. Eine unabhängige, niederschwellige und barrierefreie Ombudsstelle wäre eine Möglichkeit, damit Gewaltbetroffene Gehör finden. Ohne solche Institutionen sind Asylsuchende der Kriminalisierung durch Securitas, Polizei und Staatsanwaltschaft ausgeliefert. Die bestehenden Abhängigkeitsverhältnisse und Machtungleichheiten verunmöglichen einen gleichen Zugang zum Recht.
Das Märchen der Ansprechpersonen
Am 8. Juni 2020 stellte Nationalrätin Florence Brenzikofer (Grüne, BL) eine Anfrage beim Eidgenössischen Justiz-und Polizeidepartment unter Karin Keller-Bunker. Auf ihre Nachfrage nach etwaigen Ansprechpersonen für Zeug*innen oder Betroffene von Gewalt im Lager verweist das SEM auf drei in allen Bundeslagern anwesende Stellen: eine «designierte Ansprechperson», unabhängige Seelsorger*innen und die Rechtsvertreter*innen. In mehrmonatiger Recherche und engem Austausch mit Betroffenen wurde eine solche «designierte Ansprechperson» bisher nie erwähnt – es ist schleierhaft, um wen es sich dabei handeln könnte. Auch haben Betroffene bereits mehrfach Beschwerde eingereicht, doch weder ORS noch SEM haben bisher darauf reagiert. Ein Beschwerdeschreiben des Seelsorgers des Bundesasyllagers in Basel von Anfang Februar blieb ebenfalls unbeantwortet – verfasst wurde es im Namen dreier teilweise minderjähriger Betroffener. Im Austausch mit Aktivist*innen trat der Seelsorger leider wenig parteiisch mit den Bewohnenden des Asyllagers auf. Es ist weiterhin anzunehmen, dass die regelmässigen Treffen des Seelsorgers mit der Lagerleitung eine unabhängige und solidarische Positionierung seinerseits massiv erschweren.
Zuletzt ist der Verweis des SEM auf die Rechtvertreter*innen als mögliche Ansprechpersonen insbesondere deswegen irritierend, weil sich die Befugnisse der Rechtsvertretung auf ausländer- und asylrechtliche Belange beschränken. So lautet der Auftrag des SEM an die Rechtsvertretung, im Basler Fall ist dies das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz (HEKS). Dadurch wird es den Rechtsvertreter*innen des HEKS verunmöglicht, ihre Klient*innen in strafrechtlichen Interventionen zu unterstützen, sei es als Kläger*in oder Angeklagte*r. Dass das HEKS seinen Arbeitsauftrag und die Bezahlung dafür vom SEM erhält, ist zudem hochproblematisch hinsichtlich seiner Unabhängigkeit. Der Umstand, dass die Rechtsvertreter*innen seit der letzten Asylgesetzrevision im März 2019 Tür an Tür mit Mitarbeiter*innen des SEM untergebracht sind, wie beispielsweise in Zürich oder Basel, erschwert es Asylsuchenden zusätzlich, Vertrauen zu ihren Rechtsvertrer*innen aufzubauen.
In der Antwort auf die Fragen von Nationalrätin Brenzikofer betont der Bundesrat weiterhin, dass beim SEM in den letzten vier Jahren lediglich drei Fälle aktenkundig geworden seien, in denen «Vorwürfen wegen körperlicher Übergriffe durch das Sicherheitspersonal erhoben wurden». Angesichts der fehlenden Anlaufstellen für Gewaltbetroffene und des Umgangs von ORS und SEM mit Beschwerden erstaunt diese geringe Fallzahl nicht.
«Sie sind alle Komplizen!»
«Ich habe immer gehört, die Schweiz sei das Land der Gerechtigkeit, Gerechtigkeit, Gerechtigkeit – aber es gibt keine Gerechtigkeit, nur Rassismus.» (Lofti, 29. April 2020)
«Das Ganze hat System. Die Securitas verprügeln uns, danach rufen sie die Polizei und behaupten, wir hätten Probleme gemacht. Wenn die Polizei kommt, trinken sie erst einmal Kaffee mit den Securitas und besprechen die Sache zusammen. Mit uns Betroffenen sprechen sie gar nicht erst. Uns nehmen sie höchstens mit auf den Posten. Obwohl sie unsere Wunden und Verletzungen sehen. Die anderen Mitarbeitenden machen nichts dagegen, weil sie Angst haben.» (Youssuf, 08. Mai 2020)
Die Berichte von Bewohner*innen haben deutlich werden lassen, wie stark die Lagerstrukturen in der Schweiz auf institutionalisiertem Rassismus aufbauen. Dies zeigt sich auch im Anschluss an die Veröffentlichungen: Betroffene werden angezeigt, während gewalttätige Mitarbeiter*innen von staatlicher Seite geschützt werden. Aussagen von Lagerbewohner*innen wie «sie sind alle Komplizen» legen die Abgeschnittenheit der Lagerbewohner*innen und ihre Sicht auf die Angestellten von HEKS, ORS, SEM und Securitas offen. Zugänge zu Anlauf- und Beschwerdestellen ausserhalb des Lagers, wie der Opferhilfe beider Basel, der Ombudsstelle Basel-Stadt oder der Nationalen Komission zur Verhütung von Folter sind aufgrund der starken Isolation enorm erschwert. Das bedeutet, dass eine verlässliche Dokumentation von Gewaltvorfällen in schweizerischen Lagern kaum möglich ist. Hinweise auf Fallzahlen sind aus diesem Grund wenig aussagekräftig. Unabhängige systematische Untersuchungen, wie sie etwa 3 Rosen gegen Grenzen, die Menschenrechtsorganisation Augenauf, die Schweizerische Flüchtlingshilfe und Amnesty International forderten, sind demnach unerlässlich. Ebenso wie die Forderungen nach der Einrichtung von spezifischen Ombudsstellen.
Es ist jedoch fraglich, ob solche Stellen allein der herrschenden Gewalt in den Lagern etwas entgegenzusetzen vermögen. Aussagen von Mitarbeitenden im Bericht des SRF zeigen die extremen rassistischen Vorbehalte gegenüber den dort untergebrachten Asylsuchenden. So gibt Daniel Bach vom SEM offen zu, dass, obwohl «grundsätzlich» alle gleichbehandelt werden müssten, bei jungen Männern «aus Nordafrika» von Anfang an «genauer hingeschaut» werde (im Video ab 9’36»). Ein Securitas-Mitarbeiter betont auch, dass das Lager es schwierig machen würde, nicht rassistisch zu werden. Diese Eingeständnisse machen die passive Reaktion von Betreiber*innen und Politiker*innen umso erschreckender.
Es ist zu vermuten, dass die Gewalt auch durch unabhängige Aufsichtsstellen nicht verhindert, sondern höchstens verringert werden würde. Ein System, welches darauf ausgelegt ist, Menschen zu klassifizieren und zu kategorisieren, das in «erwünschte» und «unerwünschte» Migrant*innen einteilt und das Menschen aufgrund ihrer Herkunft unter Generalverdacht stellt, ist nicht reformierbar.
Widerstand wird lauter
Widerstand gegen die systematische Gewalt in den Bundesasyllagern und auch gegen die Lager an sich ist in den vergangenen Wochen verschiedentlich sichtbar geworden. Am Anfang stand der Widerstand der Betroffenen selbst, die das Schweigen um die Verhältnisse in den Lagern gebrochen und ihre Gewalterfahrungen öffentlich teilten. Verschiedene zivilgesellschaftliche, politische und aktivistische Akteur*innen haben das Thema und die zusammengetragenen Informationen in den darauffolgenden Wochen aufgegriffen und auf ihre Art und Weise Stellung dazu bezogen. Das migrantische Aktionsbündnis «Migrantifa» hat eine Kundgebung vor dem Bundesasyllager in Basel organisiert und lautstark ein Ende der systematischen Gewalt gefordert. Es gab verschiedene Plakataktionen, mehrere Radiobeiträge und Transparente wurden aufgehängt. Aufrufe zu dezentralen Aktionstagen wurden veröffentlicht, mehrere Strafanzeigen gegen Tatpersonen wurden eingereicht und Anfragen in verschiedenen politischen Gremien gestellt.
Die Aktionen zeigen, dass vielfältiger Widerstand gegen die Bundesasyllager selbst und die Gewalt in diesen besteht. Immer öfter kämpfen Betroffene und Bewohner*innen gegen rassistische Gewalt und ihre Isolation, erheben ihre Stimme und tragen ihren Widerstand nach Aussen. Mittels Demonstrationen, wie unlängst in Bern, mit Hungerstreiks in den Ausschaffungsknästen oder mit Protest-Velotouren durch die Schweiz – diese Widerstände gilt es mit aller Kraft zu unterstützen, auf dass die Vorstellung einer lagerfreien Gesellschaft irgendwann keine Utopie mehr ist.
«Wir haben die Securitas-Gewalt schon überlebt. Aber die kommenden jungen Leute noch nicht, für sie muss sich etwas ändern.» (Djamal, 07. Mai 2020).
Beitrag von SRF-Rundschau, 13. Mai 2020.