Arbeitslosenkomitees: Kritik und Ergänzung des Sozialstaats

Im Zuge der Diskussion um neue Klassenpolitik und mit dem Ziel, die Verankerung in der Klasse zu verstärken, orientieren sich momentan viele Linke an Basisarbeit und autonomer Organisierung. Alle diese Projekte, Netzwerke und Organisationen müssen sich früher oder später mit dem stets wiederkehrenden Spannungsverhältnis zwischen Selbstorganisation und der Integration in den Sozialstaat auseinandersetzen. Unser Autor hat im Sozialarchiv gestöbert, um die Erfahrungen der schweizweiten Arbeitslosenkomitees der Krisenzeiten der 1970er- und 1990er-Jahre nachzuzeichnen.

Um Arbeitslose bei ihrem Gang durch den bürokratischen Dschungel des Sozialstaats zu unterstützen, gibt es heute in der ganzen Schweiz verschiedene Hilfsangebote. Praktisch alle sind institutionalisiert und professionalisiert, meistens werden sie vom Staat oder religiösen Organisationen subventioniert und sind auf Spenden angewiesen. Doch das war nicht immer so. Die Selbstorganisation der Arbeitslosen bewegte sich in den 1970er und den 1980er Jahren ausserhalb des professionellen Rahmens, bevor es vor allem in den 1990er Jahren zur Institutionalisierung kam. Die Arbeitslosenkomitees waren ein Phänomen kollektiver Organisierung und fungierten in den meisten Fällen als Opposition, Korrektiv und Ergänzung zum Sozialstaat.

Im Kapitalismus sind wir dem Markt ausgeliefert. Die ökonomischen Strukturen sind ein soziales Gewaltverhältnis und zwingen uns dazu, unsere Lebenszeit dem Kapital zu verkaufen.Wer nicht erfolgreich seine «Haut zu Markte tragen» kann, wie es Marx ausdrückte, dem droht materielle Not und eine rapide Verschlechterung der Lebensverhältnisse: Fällt die Lohnarbeit weg, vermehren sich die Existenznöte und viele Menschen wären ohne Unterstützung ihrem Schicksal überlassen. Der Sozialstaat federt in der gegenwärtigen Produktionsform das schlimmste Übel derjenigen Menschen ab, die ein Anrecht auf Unterstützung haben. Doch zugleich individualisiert die staatliche Wohlfahrt gesellschaftliche Probleme: Jede:r ist selbst dafür zuständig, sich durch die staatliche Bürokratie zu schlagen und finanzielle Hilfe zu einzufordern.

Neben der finanziellen Unsicherheit, die mit dem Verlust der Arbeit einhergeht, bringt Arbeitslosigkeit auch gesellschaftliche Stigmatisierung mit sich und kann psychisches Leiden zur Folge haben. In einer Gesellschaft, die sich durch Arbeit, Individualismus und Leistung definiert, kommt für viele der Verlust des Arbeitsplatzes einem Scheitern gleich. «Es scheint, ich bin nichts mehr wert, einfach weggestellt!» schreibt ein:e anonyme:r Autor:in des Zürcher Arbeitslosenkomitees in den 1990er Jahren in einem Gedicht namens «Arbeitslos».

RAV: Scham und Schikanen

Neoliberale Ideologiefragmente wie die Humankapitaltheorie verstärken die Schamgefühle der Arbeitslosen, indem sie behauptet, dass ein guter Arbeitsplatz und die Höhe des Lohnes vom Willen und der Anstrengung des einzelnen Subjektes abhängt. Eine unsichere finanzielle Lage und sinkender Selbstwert können in Angst, soziale Isolation und psychische Probleme umschlagen. Eine 2020 publizierte Studie vom Schweizerischen Gesundheitsobservatorium (Obsan) führt Arbeitslosigkeit als Risikofaktor für die Entwicklung psychischer Erkrankungen auf und hält fest, dass der «überwiegende Teil gesundheitlicher Ungleichheit in einer Bevölkerung […] sich durch sozioökonomische Unterschiede erklären [lässt].»

Demonstration in Zürich, ca. 1990 (Bild: Schweizerisches Sozialarchiv)

Wer schon einmal arbeitslos war, weiss: Die staatlichen Auffangstrukturen sorgen zwar für eine gewisse finanzielle Erleichterung, gehen aber mit Repression und Disziplinierung einher. Viele Menschen fühlen sich durch sozialstaatliche Akteur:innen bevormundet und herabgewürdigt. Jeder noch so kleine Fehler sei es bezüglich der Anzahl von Arbeitsbemühungen, der Einhaltung von Terminen oder wegen falsch ausgefüllten oder zu spät eingereichten Formularen, wird mit der Einstellung von Taggeldern bestraft. Ob Menschen dadurch in finanzielle Not geraten, interessiert die Behörden nicht. Zudem ist man der Willkür und den Schikanen der RAV-Berater:innen ausgeliefert, die die gesetzliche Macht haben, jeder arbeitslosen Person eine «zumutbare Arbeit» oder Beschäftigungsmassnahmen aufzubürden.

Wer die deutsche Sprache nicht beherrschst, wem es schwerfällt, mit den bürokratischen Hürden klarzukommen oder mit digitalen Kommunikationsmitteln umzugehen, hat es noch viel schwerer. Hinzu kommt der entwürdigende Umgang den viele Menschen im RAV erleben. Viele RAV-Berater:innen vermitteln den Menschen das Gefühl, dass sie zu faul seien, um einer Arbeit nachzugehen. Dieses Narrativ wird von rechten Verbänden und Parteien seit Jahrzehnten gestärkt. Damit wird ein gesellschaftlicher Druck erzeugt, unabhängig von Arbeitsverhältnissen und Qualifikationen jegliche Arbeit anzunehmen. Das Zürcher Arbeitslosenkomitee schrieb hierzu 1992: «Eine Politik der Arbeitslosigkeit ist eine Politik der Entmündigung. Der Nachweis, dass man sich um Arbeit bemüht hat, ist ein erster Schritt zu dieser Entmündigung und Entwürdigung der Betroffenen. Die Angst vor dieser Entmündigung macht die Menschen an ihren Arbeitsplätzen stumm und jene auf Arbeitssuche einsam.» Diese Kritik an der repressiven Seite des Sozialstaats ist nichts Neues. Sie ging stets mit wirtschaftlichen Krisenerscheinungen einher.

Nachkriegsboom und Konjunktureinbruch

Die Arbeitslosigkeit verbreitet sich vor allem in Zeiten des wirtschaftlichen Abschwungs oder der Krise. Im 20. Jahrhundert war einer der stärksten wirtschaftlichen Konjunktureinbrüchen in den 1970er auszumachen. Dabei schien in der Nachkriegszeit die Wirtschaft zunächst zu florieren, allerlei Apologet:innen des Kapitalismus sahen in diesen «goldenen Jahren» einen Beweis für den endgültigen Siegeszug des Kapitalismus als wohlstandsförderndes Wirtschaftssystem. Die Schweizer Wirtschaft der Nachkriegszeit war kurz nach Kriegsende tatsächlich im Aufschwung. 1946 herrschte praktisch Vollbeschäftigung und die brummende Wirtschaft brauchte dringend billige Arbeitskräfte. Zu diesem Zweck wurden in den darauf folgenden Jahren hunderttausende Saisonniers rekrutiert, vor allem aus Italien. Diese arbeiteten meistens in der verarbeitenden Industrie, der Baubranche, der Gastronomie oder in der Landwirtschaft. Für die Saisonniers galt das Rotationsprinzip, das heisst sie erhielten nur befristete Arbeitsbewilligungen für maximal elfeinhalb Monate, ab 1973 sogar nur noch für neun Monate. Sie hatten weder Anspruch auf Sozialleistungen noch auf Familiennachzug und mussten meistens, segregiert von den Schweizer Arbeiter:innen, in heruntergekommenen Baracken hausen. Nach ihrem Arbeitseinsatz wurden sie wieder in ihre Heimatländer geschickt. Bereits hier zeichnete sich ab, was auch Jahre später noch die Devise des Umgangs mit der Migration sein sollte: Die Migration soll sich nach den Anforderungen des Kapitals richten. Zugleich war das Saisonnierstatut auch eine Massnahme, um – wie es im politischen Diskurs damals bezeichnet wurde – «die ausländische Überbevölkerung» zu bekämpfen.

(Bild: Schweizerisches Sozialarchiv)

Der stabile und florierende Zustand der Nachkriegswirtschaft spiegelte sich nicht nur im Bedarf an neuen, billigen und entrechteten Arbeitskräften, sondern auch im Konsum. Haushaltsgeräte und Autos läuteten die Ära des Massenkonsums ein und der Verbrauch von Erdölbrennstoffen stieg massiv an. Die Arbeiter:innen nutzten den wirtschaftlichen Aufschwung ihrerseits , um höhere Löhne und bessere Ferienregelungen durchzusetzen. Insbesondere in der Textilindustrie und im Baugewerbe kam es zu verschiedenen Kämpfen.

In den 1970er Jahren kam es aufgrund der Erdölpreiskrise zu einem Konjunktureinbruch und zu einer starken Anstieg der Arbeitslosigkeit. Fast elf Prozent der Arbeitsplätze gingen verloren. Dass die Arbeitslosenstatistik jener Zeit die zunehmende Arbeitslosigkeit nicht widerspiegelt, ist darauf zurückzuführen, dass ein grosser Teil der Arbeitslosen Gastarbeiter:innen waren. Ihnen wurde mit der Kündigung auch das Bleiberecht entzogen, was dazu führte, dass die Arbeitslosigkeit ins Ausland «exportiert» werden konnte. Frauen hingegen wurden während dem Konjunktureinbruch wieder «zurück an den Herd» geschickt. 

Als Antwort auf die Krise und die steigende Zahl der Arbeitslosen wurde die schweizweite obligatorische und lohnprozentual finanzierte Arbeitslosenversicherung eingeführt. Im Jahr 1976 nahmen die Stimmberechtigten die vom Bundesrat vorgeschlagene Neukonzeption der Arbeitslosenversicherung mit fast siebzig Prozent an. Zuvor gab es keine obligatorische Arbeitslosenkasse, man konnte sich nur bei den Gewerkschaften und bei privaten Arbeitslosenkassen freiwillig versichern lassen.

Die Arbeitslosenkomitees der 1970er-Jahre

Die ersten Arbeitslosenkomitees bildeten sich in den 1930er Jahren als Antwort auf die Auswirkungen der 1929 eintretenden Weltwirtschaftskrise heraus. Sie konnten aber keine politische Schlagkraft entwickeln und verschwanden schnell wieder. In den 1970er Jahren wurden sie angesichts der grassierenden Arbeitslosigkeit wiederbelebt. Inspiriert wurden sie durch den Aufschwung der neuen Linken im Zuge der 1968er-Bewegung. So erwähnte der Staatsschutz in einer Fiche vom Januar 1976, dass «viele aus linksextremen Organisationen» an den Arbeitslosentreffen teilnahmen.

Die Historikerin Anina Zahn legt in ihrem 2021 erschienenen Buch «Wider die Arbeitslosigkeit» dar, dass sich die Arbeitslosenkomitees durch ihre Autonomie und die Selbstorganisation der betroffenen Menschen, die als Industriearbeiter:innen oder Angestellte ihr Geld verdient hatten. Die Komitees verbreiteten sich in Zürich, Basel, Biel, Genf, Aarau, Lausanne, Bern, Thun, Delémont, Solothurn und Fribourg. Ihre Aktions- und Organisationsformen waren verschieden. Meistens waren sie als Vereine eingetragen und organisierten Demonstrationen, Rechtsberatungen, Petitionen, Besetzungen und publizierten Zeitungen. Im Jahr 1976 besetzte das Arbeitslosenkomitee Biel beispielsweise das Arbeitsamt, um gegen verspätete Auszahlungen von Arbeitslosentaggeldern zu protestieren, ein Jahr später wurde in Genf das Arbeitsamt besetzt, um gegen gestrichene Taggelder zu protestieren. Solche Aktionen waren oft erfolgreich und konnten eine unmittelbare Verbesserung für einzelne Arbeitslose erreichen.

Gemeinsam war allen Komitees, dass sie Arbeitslosigkeit nicht als individuelles sondern als gesellschaftliches Problem verstanden. Die Komitees sollten die Möglichkeit eröffnen, das Problem der Arbeitslosigkeit kollektiv zu politisieren und sozialstaatliche Massnahmen zu kritisieren. Die Arbeitslosenkomitees lancierten im März 1976 die «Nationale Petition der Arbeitslosen an den Bundesrat», für die sie fast elftausend Unterschriften sammelten. Mit der Petition forderten sie verschiedene Anpassungen und Veränderungen: Unbegrenzten Taggeldbezug, volle Sozialleistungen bei Arbeitslosigkeit, Finanzierung der Arbeitslosenversicherung durch die Unternehmenssteuer statt durch Abzug bei den Löhnen, Arbeitslosengeld für ausländische Arbeitskräfte und Arbeitslosengeld ohne Wartefrist. Die Petition wurde vom Volkswirtschaftsdepartement abgelehnt.

Demonstration von Arbeitslosen vor dem Bundeshaus in Bern, 1993 (Bild: Schweizerisches Sozialarchiv)

Lange blieben die Arbeitslosenkomitees jedoch nicht erhalten. Die starke Fluktuation bei den Mitgliedern (viele zogen sich zurück, sobald sie eine Arbeit gefunden hatten), die mangelnde Unterstützung durch bereits länger bestehende Organisationen und fehlende Ressourcen führten dazu, dass viele Komitees keine Versammlungsorte hatten und die grosse Heterogenität der Meinungen innerhalb der Komitees eine klare politische Ausrichtung erschwerte. Viele Arbeitslosenkomitees der 1970er verschwanden wenige Jahre nach ihrer Entstehung. Nur wo die Arbeitslosenkomitees von bereits etablierten Organisationen, wie Gewerkschaften, christlichen Organisationen oder sogar von staatlichen Institutionen – letzteres vor allem ab den 1990er Jahren – unterstützt wurden, konnten sie über längere Zeit bestehen bleiben.

Im Jahr 1980 war die Association de Défense des Chômeurs (ADC) in Genf der letzte verbleibende Arbeitslosenzusammenschluss. Doch auch beim Genfer ADC zeigten sich Probleme, die vielen Menschen, die sich mit Basisarbeit beschäftigen, bekannt vorkommen dürften: Beratungsangebote wurden zwar genutzt, aber nur wenige Leute interessierten sich für eine längerfristige Organisierung. Es entstand nur selten eine breit abgestützte gegenseitige Hilfe von Betroffenen für Betroffene. Zumeist konnte die Hierarchie zwischen Beratenden und Hilfesuchenden nicht aufgelöst werden. Dennoch fungierte der Treffpunkt als Austauschort unter Arbeitslosen, auch wenn viele keine weitere Verantwortung für die Räumlichkeiten und die Organisation übernahmen. Der Sprung von individueller Hilfe zu kollektiven Aktionen gelang der ADC Genf nur selten.

Die zwei Jahre später von Anarchist:innen, Linken und Linksradikalen gegründete ADC La Chaux-de-Fonds versuchte die Perspektive der gegenseitigen Hilfe und der Selbstverwaltung ins Zentrum zu stellen. Neben den Beratungen, den Informationsanlässen und der öffentlichen Mobilisierung für Gesetzesänderungen organisierte sie auch gemeinsame Essen und baute eine Kooperative auf, die den Arbeitslosen verschiedene temporäre Arbeitsstellen verschaffte. Die ADC La Chaux-de-Fonds grenzte sich dabei von Wohltätigkeitsorganisationen ab. In ihrem Selbstverständnis beschrieb sie das Arbeitslosenkomitee als Mittel, um durch Selbstorganisation mit der Ohnmacht und der sozialen Isolation zu brechen. Die ADC La Chaux-de-Fonds blieb bis 1988 bestehen, sah sich dann aber mit ähnlichen Problemen wie die ADC Genf konfrontiert.

Die 1980er Jahre und das Basler Arbeitslosenkomitee

In den 1980er Jahren beteiligten sich viel mehr Migrant:innen an den Arbeitslosenkomitees, da Gesetzesänderungen es dem Schweizer Kapital verunmöglichten, arbeitslose Gastarbeiter:innen einfach wieder in ihre Heimatländer zu schicken. Doch als die Arbeitslosenzahlen wieder stiegen, stellten die vom Andrang überforderten Arbeitsämter weder Übersetzer:innen noch übersetzte Formulare zur Verfügung. Hinzu kam, dass die Kontrollmechanismen des Arbeitsamts zugleich Mobilisierungs- und Vernetzungsmöglichkeiten mit sich brachten: Während heute meistens einmal im Monat ein Kontrollgespräch im RAV stattfindet, mussten die Arbeitslosen in den 1980er Jahren in den meisten Kantonen zweimal pro Woche beim Arbeitsamt vorsprechen, in Basel musste man sogar dreimal pro Woche «stempeln gehen». Der Gang zu Arbeitsamt war in dieser Hinsicht auch eine Begegnungsmöglichkeit mit Menschen in derselben Lage, was zu viel Austausch und Debatten vor dem Arbeitsamt führte und die Vereinzelung durchbrach.

Gemeinsam stempeln gehen – Die Schlangen vor der Arbeitslosenkasse ermöglichten Kontakt und Organisierung (Bild: Schweizerisches Sozialarchiv)

Beispielsweise gründete sich im Jahr 1984 auf Initiative von Arbeitslosen, die in der Anti-Atom Bewegung und der autonomen Szene aktiv waren, das Arbeitskomitee Basel (AKB), dessen Beratungsangebot bis heute unter dem Namen «Kontaktstelle für Arbeitslose Basel» weiterbesteht. Das AKB verteilte Flyer und knüpfte Kontakte in den Warteschlangen vor dem Arbeitsamt – ein Vorgehen, dass bis in die 1990er Jahre verbreitet war. Zum Gründungstreffen des Komitees kamen über achtzig Menschen, darunter viele Migrant:innen. In den einige Monate später ausgearbeiteten Statuten des AKB wurde festgehalten, dass die «Beratung und Betreuung von Arbeitslosen, insbesondere auch von türkischen, spanischen, italienischen und anderen ausländischen Kollegen-innen[sic]» im Zentrum stehen sollte. Auf der Grundlage von Selbsthilfe und Solidarität sollten die «basisdemokratischen Bestrebungen von Arbeitslosen […] unterstützt und gefördert werden». Dafür stellte das AKB im Juni 1984 ohne Bewilligung der Behörden einen Bauwagen vor das Arbeitsamt und bot kostenlose Beratungen an. Die Beratungsstelle konnte jedoch nur dank der finanziellen und organisatorischen Unterstützung von Gewerkschaften und des Basler Industriepfarramts weiterbestehen. Auch wenn im Jahr 1986 die Arbeitslosenzahlen wieder sanken, suchten viele Menschen die Beratungsstelle weiterhin auf. Doch genauso wie viele andere Komitees, konnte das AKB ohne finanzielle Unterstützung, Professionalisierung und angestellten Berater:innen den vielen Beratungssuchenden nicht gerecht werden.

Die Krise der 1990er

Gegen Ende der 1980er Jahre sank die Arbeitslosenquote, dieser Zustand dauerte jedoch nicht lange an. Zu Beginn der 1990er Jahre schlitterte die Schweizer Wirtschaft erneut in eine langjährige Rezession, die Zahl der Arbeitslosen schnellte wieder in die Höhe. Bis 1994 verzehnfachte sie sich gegenüber dem Jahr 1990 und im Jahr 1997 betrug die Arbeitslosenquote 5,7 Prozent, was über 206.000 Arbeitslosen entsprach. Betroffen waren vor allem prekär Beschäftigte, die für Temporärfirmen arbeiteten, die Krise dehnte sich jedoh auf weitere Branchen aus. In dieser Situation reaktivierten sich schweizweit viele Arbeitslosenkomitees und sahen sich schnell mit ähnlichen Problemen konfrontiert, wie in den Jahrzehnten zuvor.

In der ADC Genf gab es in den 1990er Jahren in Diskussionen über die Ausrichtung der Komitees. Während sich einige auf die Professionalisierung der Beratungen fokussieren wollten und darin bereits einen politischen Akt sahen, empfanden andere die Beratungen als karitativen oder sogar paternalistischen Akt, der sich auf Probleme von Einzelnen fokussierte und keine gesellschaftliche Perspektive anvisierte. Letztgenannte Position forderte darum die Hinwendung zu mehr direkten Aktionen, Mobilisierungen und kollektiven Aktivitäten, wie beispielsweise ein tägliches Frühstück für alle. Schliesslich wurde entschieden, sich sowohl auf Hilfsangebote als auch auf Mobilisierungen zu fokussieren, was einen gewissen Erfolg mit sich brachte: Hatte die ADC Genf 1992 noch sechzig Mitglieder, waren es 1994 schon fünfhundert.

In den 1990er Jahren wurde die Mehrheit der Arbeitslosenkomitees institutionalisiert und in vielen Fällen erhielten sie eine Teilfinanzierung durch den Staat, zum Beispiel durch die Subventionierung von Raummieten oder fester Arbeitsstellen für die Beratungsangebote. Dass dies im Sinne der Arbeitslosenkomitees war, spiegelt sich in einem Brief vom März 1993 des Züricher Arbeitslosenkomitees (ZAK) an die Direktion der Städtischen Liegenschaftsverwaltung: «Sie werden sicher verstehen, dass auf Grund unserer Lage die Mittel fehlen, um Büroraum auf dem Markt anzumieten. Wir bitten deshalb die Direktion der Städtischen Liegenschaftsverwaltung zu prüfen, ob sie uns ein Angebot für günstigen oder unentgeltlichen Büroraum machen kann.» Die Gemeinden und der Staat übernahmen jedoch die Finanzierung meistens nicht vollumfängich und so waren die Beratungsstellen auch von Spenden von Privatpersonen sowie von kirchlichen oder anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen abhängig.

Die staatliche Teilsubventionierung führte zu internen Debatten denn sie hatte einerseits einen positiven Effekt, weil die Beratungen eine Kontinuität entwickeln konnten und den Angeboten eine gewisse Stabilität verliehen. Andererseits bedeutete die Einbindung in sozialstaatliche Strukturen auch die Aufgabe der Autonomie der Arbeitslosenkomitees, wodurch sich auch deren Aktionsradius verkleinerte. Das Zürcher Arbeitslosenkomitee hielt 1994 in diesem Sinne fest: «Einsatzplätze haben ein Doppelgesicht: einerseits sind sie ein Instrument um das ZAK politisch zu disziplinieren, andererseits ermöglichen sie dem ZAK Kontinuität und Wege zur Finanzierung».

Neue Arbeitslosenpolitik

Nicht nur finanzielle sondern auch politische und gesetzliche Faktoren beeinflussten die Institutionalisierung der Arbeitslosenkomitees massgeblich, allen voran die Veränderungen der Arbeitslosenpolitik. Die Revision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG) von 1995 führte zu einschneidenden Veränderungen in der Arbeitslosenpolitik, denn sie legte die Grundlage für die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV). Ab 1996 übernahmen über 150 solcher Arbeitsvermittlungszentren die Beratung und Kontrolle der Arbeitslosen. Zuvor waren dafür über dreitausend Gemeindearbeitsämter zuständig. Zur AVIG-Revision gehörte auch, dass die Stempelkontrollen durch Beratungs- und Kontrollgespräche sowie durch arbeitsmarktliche Massnahmen ersetzt wurden, in der Hoffnung die Bezugstage von Arbeitslosengeldern zu reduzieren. Die Menschen sollten schneller und effizienter wieder eine Arbeit finden, die öffentliche Arbeitsvermittlung sollte leistungsfähiger und Wiederanmeldungen und Langzeitarbeitslosigkeit vermieden werden. Dafür wurde unter anderem der Begriff «zumutbare Arbeit» ausgedehnt und der Druck auf die Arbeitslosen erhöht. Es wurde fortan erwartet, jegliche Form von Arbeit anzunehmen, ansonsten drohten Taggeldstreichungen. Diese verstärkte Kopplung staatlicher Unterstützung an eine Gegenleistung prägt nicht nur die Arbeitslosenversicherung, sondern auch die Invalidenversicherung und die Sozialhilfe seit den 1990er-Jahren. Die Sozialwissenschaftlerin Bettina Wyer bezeichnet dies als neues aktivierungspolitisches Paradigma, das durch Leitbegriffe wie «Eigenverantwortung», die Erosion sozialer Solidarität und der neoliberale Selbstoptimierungs- und Leistungszwang überdeckt.

(Bild: Schweizerisches Sozialarchiv)

Die in den 1990er Jahre eintretende Investition in die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren und die Personalschulung sollte längerfristig ausgeglichen werden. Jürg Irman Leiter des RAV Uster brachte die Kosten-Nutzen-Rechnung 1996 in einem Interview im SRF auf den Punkt: «Wenn wir die Dauer, in der Geld bezogen wird, im Durchschnitt um sieben Tage reduzieren können, hat sich die Investition bereits gelohnt.» Um die Kosten der Arbeitslosenversicherung zu senken sollten ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre Taggeldkürzungen eingeführt und die Löhne für eine zumutbare Arbeit und die Entschädigungen bei Teilzeit-Erwerbslosigkeit reduziert werden. Das Arbeitslosenkomitee Bern bezeichnete die angestrebten Veränderungen als Kürzungen auf dem Buckel der Arbeitslosen und als «verschärftes staatliches Lohndumping». Die Mobilisierungen der Arbeitslosenkomitees und der Gewerkschaften gegen diesen Sozialabbau konnten die Kürzungen jedoch bei der Abstimmung über die Finanzierung der Arbeitslosenversicherung am 28. September 1997 verhindern. Dieser knappe Sieg ist angesichts der medialen Hetze gegen Arbeitslose bemerkenswert. Die «Neue Zürcher Zeitung» behauptete, dass ein Drittel der Arbeitslosen Alkoholiker:innen oder drogensüchtig seien und ein weiterer Drittel bestehe aus Drückeberger:innen, während eine Schlagzeile der Boulevardzeitung «Blick» suggerierte mit der Schlagzeile «Falsche Arbeitslose: Ihre 10 fiesen Tricks», dass viele Arbeitslose die Arbeitslosenkassen betrügen würden.

Dennoch läutete die AVIG-Revision die Phase des Niedergangs der Arbeitslosenkomitees ein, denn die Umstrukturierung wirkte sich auch auf die Mobilisierungsmöglichkeiten der Arbeitslosen aus: Die Schlangen vor den Arbeitsämtern fielen als Begegnungs- und Mobilisierungsorte weg, die Arbeitslosen wurden zunehmend voneinander isoliert. Der vermehrte Einsatz von Beschäftigungsmassnahmen führte zudem dazu, dass viele Arbeitslose keine Zeit mehr hatten, sich an den Komitees zu beteiligen. Im Zürcher Arbeitslosenkomitee ist beispielsweise in den Sitzungsprotokollen ständig von Mitgliederschwund die Rede, dadurch war es für das ZAK enorm schwierig die Infrastruktur aufrechtzuerhalten: «Die hohe Fluktuationsrate unter den Arbeitslosen erschwert die Kontinuität unserer Selbsthilfeorganisation erheblich. Um dem entgegenzuwirken, braucht es dringend einen stützenden Rahmen. Wünschenswert ist deshalb die Einrichtung von bezahlten, festen Sekretariatsstellen». Zudem stellte beispielsweise ds ZAK fest, dass sich auch eine gewisse Frustration, verbreitete: «Viele Arbeitslose mögen sich nicht engagieren (nach gewissem Anfangsenthusiasmus kehrt Resignation ein)». Auch das Berner Arbeitslosenkomitee (BAK) machte ähnliche Erfahrungen. In einem Lagebericht vom August 1993 ist zu lesen: «Stimmung in der Basler Arbeitslosen-Szene: nach einem Anfangselan von vielen Aktivisten, die sich erstmals politisch äussern, Artikel schreiben, Projekte starten, ist jetzt eine gewisse Ernüchterung eingetreten, weil sich der politische Druck nicht unmittelbar sichtbar auswirkt.» Dies, gepaart mit der Tatsache, dass in den 1990er Jahren die Wichtigkeit der selbstorganisierten Beratungsstellen vom Staat immer mehr anerkannt wurde, führte zur schrittweise Auflösung vieler Arbeitslosenkomitees. Was als Kritik an die staatliche Handhabung der Arbeitslosenpolitik begann, stellte sich als wichtige ergänzende Massnahme heraus, auf die viele Leute angewiesen waren

Von der Bewegung in die Beratung

Trotz dieser Widersprüche zeigt sich, dass autonome und selbstorganisierte Strukturen, die an Alltagsproblemen der Menschen ansetzen und von den Betroffenen selbst am Leben gehalten werden, spannende Kampfmittel sein können. Aber je mehr sie sich institutionalisieren und ihre Strukturen festigen, desto mehr verlieren sie an Radikalität und Mobilisierungspotential. Die direkten Aktionen treten zugunsten von längerfristigen Strukturen – zum Beispiel Beratungsangeboten – in den Hintergrund, wobei auch diese Angebote nach wenigen Jahren wieder verschwinden.

Der Schritt vom politischen Aktivismus der Betroffenen hin zu staatlich teilsubventionierten Beratungsstelle ist meistens kein grosser, spätestens dann, wenn selbst die staatlichen Institutionen merken, dass eine Lücke gefüllt wird, die sie selber nicht bedienen. Dennoch wäre es falsch, autonome Strukturen der Selbsthilfe lediglich als Dienstleistungsangebote abzutun, die dem Staat Aufgaben abnehmen. Im Falle der Arbeitslosenkomitees ging der Integration in die Sozialpolitik ein Prozess der kollektiven Selbstorganisierung, der Solidarität und der Kritik des repressiven Sozialstaats voraus. Sie versuchten die soziale Isolation der Arbeitslosen zu durchbrechen und das Problem gesamtgesellschaftlich anzugehen. So schrieb das Arbeitslosenkomitee Bezirk Dielsdorf 1993 in einem Flyer: «In der heutigen Wirtschaftslage ist die Arbeitslosigkeit nicht nur ein Problem der Arbeitslosen; sie ist menschengemacht und ein gesellschaftliches Problem. Du stehst auf der Strasse und haderst mit Dir. Es wird Zeit, dass wir, die Arbeitslosen, uns in unsere Angelegenheiten einmischen».

Darüber hinaus versuchten viele Arbeitslosenkomitees die Arbeitslosigkeit mit anderen sozialen Problemen zu verbinden. Das Winterthurer Arbeitslosenkomitee (WAK) stellte beispielsweise fest: «die steigende Arbeitslosenzahl ist für die Arbeitgeberseite ein ideales Druckmittel für Überstunden und Lohndumping». Im gleichen Text wird das Mensch-Natur-Verhältnis im Kapitalismus thematisiert: «die Ressourcen sind begrenzt, die Natur bis zur Schmerzgrenze ausgebeutet. Wir sind Teil der Erde und nicht umgekehrt.» Zugleich war auch der Kampf gegen Rassismus und Sexismus oft Bestandteil der politischen Themen, die in den Arbeitslosenkomitees präsent waren. In einem Mind-Map, in dem Mitglieder des ZAK Ideen zusammentrugen, spiegelte sich beispielsweise der Wille, über ökonomische Fragen hinauszugehen: «Gegen die Zurückdrängung der Frauen an den Herd, gegen jeden Rassismus, gegen zerstörende Produktionsweisen, gegen Krieg fördernde Produkte und Handel mit ihnen.»

(Bild: Schweizerisches Sozialarchiv)

Es lässt sich also festhalten, dass viele Arbeitslosenkomitees versuchten, unmittelbar und direkt in die eigenen Lebensrealitäten einzugreifen und von dort aus die Frage nach breiteren gesellschaftlichen Problemen zu lancieren. Ihr Scheitern und ihre Integration in die Sozialpolitik waren auch durch die mangelnde Verbreitung sozialer Kämpfe bestimmt. Der Entstehungskontext der Arbeitslosenkomitees war meistens durch ungünstige Kräfteverhältnisse gekennzeichnet, was von Anfang an ihren politischen Horizont bestimmte: Das Recht auf Arbeit und nicht deren Abschaffung stand im Zentrum – und dies in einer Schweiz, deren politische Landschaft zwar nicht immer, aber doch meistens durch Arbeitsfrieden und Sozialpartnerschaft und nicht durch betriebliche und soziale Kämpfe gekennzeichnet war. Am 1. Mai 1993 fasste eine Rednerin die widersprüchliche Lage der arbeitslosen Proletarier:innen in nichtrevolutionären Zeiten treffend zusammen: «Da stehe ich nun, im Regen (in der Sonne) und habe Feiertag, obwohl ich immer freie Zeit habe, ohne Arbeit, als Arbeitslose. Zeit, in der ich endlich machen kann, was Spass macht, was ich schon lange wollte. Aber die Freude dauerte nur kurz an. Bald häuften sich die Sorgen […] plötzlich lebe ich nur noch, immer einsamer, von Tag zu Tag.»

Angepasste Arbeitslose?

Dass es heutzutage keine Arbeitslosenkomitees mehr gibt, bedeutet nicht, dass alle Arbeitslosen die Schikanen und Repression passiv hinnehmen. Vielmehr leben widerständigen Verhaltensweisen auf verdeckte Art und Weise weiter. Sie äussern sich nicht öffentlich und meistens auch nicht kollektiv, sondern auf individueller Ebene: Gefälschte Arbeitsbemühungen, Absentismus und unzuverlässiges Arbeiten während Arbeitsintegrationsmassnahmen sind beispielsweise einige der Mittel, derer sich Arbeitslose bedienen, um der sozialstaatlichen Repression, Disziplinierung und Entwürdigung zu trotzen. Viele arbeitslose Arbeiter:innen spüren am eigenen Leib, dass der Sozialstaat nicht die Arbeitslosigkeit sondern die Arbeitslosen bekämpft. Eine klassenkämpferische Antwort darauf ist die Bekämpfung von soziale Leistungskürzungen, Sozialabbau und verstärkten Kontrollmassnahmen unter gleichzeitiger Betonung der strukturellen Ursachen der Arbeitslosigkeit. Zugleich sollte vermieden werden dem Ideal der Vollbeschäftigung das Wort zu reden und das Recht ausgebeutet zu werden, also Arbeit zu haben, mit Freiheit und Emanzipation zu verwechseln. Denn auch heute gilt gesamtgesellschaftlich auf ideologischer Ebene weiterhin das Credo, das 1995 vom Unesco-Berater Ignacy Sachs während dem Weltgipfel für soziale Entwicklung in Kopenhagen beschworen wurde: «Der erste Schritt zur sozialen Eingliederung ist, ausgebeutet zu werden.»

Quellen aus dem Sozialarchiv: SozArch Ar 509.10 (1.17). Bestand abrufbar unter:

https://www.findmittel.ch/archive/archNeu/Ar509.html?tab=aktenserien [30.03.2024]