Im St. Galler Asylzentrum «Sonneblick» ist es innerhalb von acht Monaten zu drei Suizidversuchen gekommen. Die migrantische Selbstorganisation ROTA macht mit einer Kundgebung darauf aufmerksam. Doch die zuständigen Behörden zeigen sich uneinsichtig. Ein Besuch vor Ort.
«Das ist eines der modernsten Zentren und Konzepte, die wir entwickelt haben», sagt der Mann. Nicht ohne Stolz zeigt er dabei wie ein Lehrer an der Wandtafel aufs Asyllager «Sonneblick», das weit oben auf den Hügeln des Appenzeller Vorderlands im Örtchen Walzenhausen (AR) liegt und seit Februar das Asyllager in Landegg ersetzt. «Warum?», fragt er rhetorisch: «Das ist ein Asylzentrum mit Integrationscharakter (ZIC). Hier drinnen wird bewusst, gezielt Integrationsarbeit geleistet. Diese Form der Unterbringung soll die Leute auf die Unterbringung in den Gemeinden vorbereiten».
Der Mann ist Verwaltungsbeamter des Kantons SG und damit beauftragt worden, das Gespräch mit uns zu suchen – das nehmen wir zumindest an, denn er meint selbst, er sei kein Politiker. Abgesehen davon hatten wir ihn nicht eingeladen. Ebenso wenig die Polizei, die den Zugang zum «Sonneblick» durch ein halbes Dutzend Beamte längst versperrt hatte. Und auch das Ostschweizer Fernsehen (TVO) nicht, dessen Equipment schon parat stand, um ein paar gute Bilder der Aktion einzufangen. Einige Tage zuvor hatten wir als migrantische Selbstorganisation ROTA zur Teilnahme an einer Kundgebung vor dem neuem Lager aufgerufen.
Grund dafür war ein weiterer Fall von Suizid. Der dritte innerhalb von acht Monaten. Zum Glück sind alle drei Versuche gescheitert. Jedenfalls läuft im brandneuen ZIC etwas gewaltig schief. Wieso gelangen die Bewohner:innen zu der Überzeugung, das Leben lohne sich nicht mehr? Und was sagen die verantwortlichen Betreiber dazu?
«Sonneblick» – Die Sonne scheint nicht für alle
Zur Vorgeschichte: Ende August 2020, noch vor dem Umzug, ereignet sich der erste Fall. Eine junge Frau erhält einen positiven Asylentscheid, muss mit ihrem kleinen Kind aber weiter im Lager in Landegg ausharren. «Dieser Ort ist nicht gut für mein Kind», wird sie von den Mitbewohner:innen zitiert. Ausserdem wurde ihr Antrag auf Familiennachzug abgelehnt. Und wer im Lager haust, muss an der Tagesstruktur teilnehmen. So lautete schon damals das Konzept. Die Zeit für den Transfer in eine Gemeinde ist noch nicht reif – heisst es. Sie hält es nicht mehr aus. Die Ambulanz trifft zwei Stunden nach dem Selbstmordversuch ein und nimmt sie mit. Die restlichen Bewohner:innen sind schockiert.
Ein mulmiges Gefühl macht sich breit. Zum Glück steht der Umzug in den «Sonneblick» bevor. Dort wird man einen Panoramablick über die Bodenseeregion und das Dreiländereck geniessen können, der helfen wird, den Kummer zu verdrängen. Kurz nach dem Umzug das Erwachen: Eine weitere Frau entscheidet, das Leben macht keinen Sinn mehr. Unruhe und Verstörung nehmen zu. Die Betreiber des Lagers sind ebenfalls ratlos. Wahrscheinlich suchen sie deshalb nicht das Gespräch mit den Bewohner:innen.
Kaum drei Wochen vergehen. Diesmal ist es ein junger Mann. Sein Zimmergenosse schlägt Alarm. Einer seiner Freunde im Lager erzählt, wie er ins Zimmer gestürmt sei und den Jungen zitternd auf dem Boden vorgefunden habe. Die Ambulanz wird sofort gerufen. Eine halbe Stunde vergeht – und eine weitere halbe Stunde. Wo bleibt die Rettung? Eine weitere halbe Stunde und die Ambulanz trifft endlich ein. Der junge Mann lebt gerade noch. Er wird auf die Intensivstation gebracht. Seither hat niemand mehr mit ihm gesprochen.
Konfrontation vor dem ZIC
Was passiert hier? Spätestens jetzt müssten die verantwortlichen Stellen doch etwas unternehmen, um die wachsende Verstörung und das Unbehagen der Bewohner:innen zu bekämpfen. Die Leute ansprechen, einbeziehen, mindestens zusichern, dass man dran ist und sich Mühe gibt, das Standardprotokoll eben. Aber nichts.
Dass hier nichts passiert, ist von öffentlichem Interesse. Also muss Öffentlichkeit her, deshalb auch die Kundgebung. Einige solidarische Menschen aus der Region folgen dem Aufruf. Wir versammeln uns und geben unsere Meinung kund. Es muss etwas passieren! Nachdem man uns versichert hat, dass unser Recht auf freie Meinungsäusserung respektiert wird, folgt die eingangs zitierte Erläuterung zum Konzept des «Sonneblicks» vom kantonalen Verwaltungsbeamten.
Währenddessen steht die verantwortliche Lagerleitung hinter einem Gebüsch bei den Polizeibeamten, die die Zufahrt bewachen. Sie hält sich verschanzt, beobachtet das Geschehen von hinter der Hecke aus. Ihr stämmiger Vorgesetzter, der wohl für alle vom Kanton betriebenen Lager verantwortlich ist, hat sich ebenfalls erbarmt. Er steht da, beide Arme über der Brust verschränkt, seine Mundwinkel zucken. Die Maske vibriert über der fleischigen Nase. Ein einzelner Funke aus heiterem Himmel reichte, denkt man – und sein breiter Kopf würde allen hier um die Ohren fliegen.
Der Verwaltungsbeamte aus der Zentrale versichert uns weiter: «vollumfänglicher Zugang zum Gesundheitssystem». Die Ambulanz hat 90 Minuten bis zum Lager gebraucht – wieso nicht aufgeklärt wird, woran es gelegen hat, fragen wir. Und das scheint die Zündung: «Wenn die Leute was wissen wollen, dann sollen sie doch fragen!», bellt der verantwortliche Lagerleiter. Keine Scham, keine Eigeninitiative, kein Eingeständnis. Kein Versprechen auf Besserung, kurz: kein Begriff von Verantwortung. Dieser Mann sieht sich vollkommen im Recht. Der Schlagabtausch vor dem Lager ist vorbei.
Also schliessen wir ab: «Refugee Lives Matter!», und packen zusammen. Das TVO will noch kurz mit uns reden. Danach machen wir uns mit einem Versprechen auf den Weg zurück in die Stadt. Die Situation bleibt unter Beobachtung. Als wir uns verabschieden, ist bei den Verantwortlichen nichts mehr von Stolz zu spüren. Die Bewohner:innen klatschen uns zu und pfeifen. «Es hat gutgetan, euch zu sehen».
Oberste Instanz – Migrationsamtsleiter
Später am Abend gehen wir auf die Website des TVO und werden bei den Nachrichten fündig. Ein Beitrag erörtert unsere Aktion und den Kontext. Dabei kommt auch der Leiter des Migrationsamts SG zu Wort. Er erklärt die Vorfälle – nicht aber deren Häufung – durch drei Faktoren: «Da ist einerseits mal das, was sie im Heimatland erlebt haben. Dann Erlebnisse, die sie auf der Flucht gehabt haben. Und unter anderem auch wenn das Asylverfahren – ich sage jetzt fast überdurchschnittlich lang dauert und das kann sein, weil die Situation sehr komplex ist. Das ist sehr belastend.»
Immerhin der Hauch von Selbstkritik, auch wenn sie an die Adresse des Staatssekretariats für Migration (SEM) geht. Und mindestens stimmt die Erkenntnis bezüglich der Belastung. Dann sollte man sich ausgehend von der Faktenlage aber auch die Mühe machen, die Situation mit entsprechender Vorsicht zu behandeln. Es ist einfach: Die Suizidversuche haben sich allesamt hier ereignet, während des Asylprozesses und nicht während der vorherigen Phasen der Flucht. Der Auslöser, der diesen ultimativen Akt provoziert, ist in den Strukturen des Asylregimes zu suchen und nicht in die Vergangenheit der Menschen zu verlegen.
Zum Schluss des Beitrags holt die oberste Lagerleitung noch zum demütigenden Schlag aus und echauffiert sich. Der Kanton hätte sich ausserdem gewünscht, dass es einen direkten Austausch zwischen beiden Seiten gegeben hätte und dieser nicht in der Öffentlichkeit ausgetragen würde. Diesen hätten die Demonstrierenden offenbar nie gesucht.
Integrationsabarbeit
Womöglich erklärt sich die ganze Sache aber auch von selbst. «Hier drinnen wird bewusst, gezielt Integrationsarbeit geleistet», hatte der Mann aus der Zentrale gesagt. Worin besteht diese Arbeit? Die Bewohner:innen verfügen über Wahlfreiheit: Hauswart, Küche oder Kinderbetreuung. Reproduktionsarbeit. Jede Tätigkeit wird zertifiziert, das soll einem dann später die Tore zum Arbeitsmarkt öffnen.
Um 8 Uhr gehts los. Frühstück, dann zusammenräumen und parat machen. Das jeweilige Amt wartet. Garten: jäten, schaufeln, Steine schleppen. Hauswartung: Gänge, Treppen, Exekutivbüros wischen, Klos reinigen, auch die Toiletten der Lagerleitung gehören dazu. Betreuung: die Kinder hüten, für Ruhe und Ordnung sorgen. Küchendienst: schälen, schnätzeln, kochen, an den Töpfen vorwärtsmachen. Um 12 Uhr ist Essenszeit.
Am Nachmittag gibts Unterricht. Sprachliches und kulturelles Grundwissen wird vermittelt. Man muss wissen, wie man sich später zu verhalten hat. Dann weitere Ämtli und Sonstiges. 17 Uhr: man darf ausstempeln. Die Küchencrew bereitet schon das Abendessen vor. Und wer ist heute dran mit Abwaschen? Das geht dann gut und gerne bis 20 Uhr. Wenn man sich beeilt, nur bis halb acht. Wer will, kann noch einen Spaziergang machen, um den Tag zu verdauen.
Spätestens um 22 Uhr musst du aber zurück sein. Manchmal wird ein Auge zugedrückt, bis maximal Mitternacht – seltene Ausnahmen bestätigen die Regel. Wenn man dann noch nicht zurück ist, gilt man als offiziell abwesend. Das heisst, es gibt einen Franken und fünfzig Rappen Abzug vom Taschengeld. 32 Franken pro Woche minus eins fünfzig. Wird man nachlässig und erledigt die frei gewählten Ämtli nicht gewissenhaft, hat das denselben Abzug zur Konsequenz. Dafür gibt es manchmal Extra-Jobs. Für den pauschalen Zuschlag von drei Franken. Gar nicht so schlecht, schliesslich geniesst man freie Kost und Logis.
Für ein Halbtax reicht das aber nicht. Dafür müsste man fünf bis sechs Wochen keinen Rappen ausgeben. Und ohne Halbtax ist der ÖV doch recht teuer. Ab und zu kann man es sich mal gönnen. Wenn man einen Bekannten besuchen geht oder so, am besten übers Wochenende, damit es sich auch lohnt. Dafür braucht man aber eine Genehmigung, die man normalerweise auch problemlos bekommt. Aber zurzeit dreht das Virus seine Runden und alle, die das Lager über Nacht verlassen, müssen nach der Rückkehr in die Quarantäne. Zehn Tage. Mit negativem Corona-Test fünf Tage. Das gilt ausnahmslos für alle. Ausser für die Verwalter:innen. Die sind nämlich schon integriert.