In Mexiko werden jeden Tag 10 Frauen* ermordet – Tendenz steigend. Die Regierung hat bereits mehr als die Hälfte des Staatsgebiets als gefährlichen Ort für Frauen* deklariert und Mexiko-Stadt rief 2019 wegen der hohen Feminizid-Rate den Notstand aus. Gleichzeitig organisiert sich die feministische Bewegung in bisher nicht gekannten Ausmassen. Das zeigte deutlich der 8. März 2020: Am Frauen*kampftag gingen Millionen auf die Strasse. Den feministischen Rekord-Demonstrationen folgte am 9. März ein landesweiter Frauen*streik.
Von Rosa Stürm
Lautes Applaudieren, euphorische Rufe, heftiger Jubel: Eine schwarze, übergrosse Pappmaschee-Zapatistin trifft als Teil des anarchafeministischen Demonstrationsblockes am Besammlungsort vor der Staatsanwaltschaft in der mexikanischen Stadt Puebla ein. Für Rosa, Mitglied des Kollektivs Diálogo insurrecto, bedeutet die Teilnahme an der Demo, «sich an jene zu erinnern, die heute nicht hier sein können und denen zu gedenken, die hier ermordet wurden und die tagtäglich verschwinden und getötet werden».
Die Trommelgruppe animiert erneut zur Parole «El patriarcado se va a caer! Arriba el feminismo que va a vencer» (Das Patriarchat wird fallen! Hoch den Feminismus, der siegen wird), die in ganz Lateinamerika an feministischen Demonstrationen gesungen wird. Vom Demowagen erklingt eine Rede: «Wir sind Frauen*, und wir sind heute hier, als kämpfende Frauen. Hält euch in Erinnerung, dass sie uns nicht mehr aus der Geschichte löschen können und dass wir keinen Schritt zurücktreten werden. Unsere stärkste politische Waffe als Feministinnen* ist, dass wir uns um uns selbst kümmern [el autocuidado].»
Es ist die grösste Frauen*tagdemo, die die mexikanische Stadt Puebla je gesehen hat. Zur traditionellen 8. März Demo aufgerufen hat das zum Zweck der Koordination ins Leben gerufene Treffen der Mujeres articuladas (organisierte Frauen). Das ist ein weiteres Novum für die hiesige feministische Bewegung. Erstmals haben sich im Vorfeld fünfzehn teils verstrittene Kollektive an einen Tisch gesetzt, um den Internationalen Frauen*kampftag zu koordinieren. In den Jahren zuvor fanden zwar stets Demos und Aktionen statt, die hatten aber eher dezentralen Charakter. Dieses Jahr wurde zu zwei Besammlungsorten aufgerufen, die sich anschliessend auf dem Zócalo, dem Hauptplatz der Stadt, trafen. In beiden Demozügen waren verschiedene Blöcke und Kollektive präsent: Familien und Angehörige der verschwundenen und ermordeten Frauen*, einen separatistischen Block (nur Frauen, keine Trans-, Inter- und non-binäre Personen), einen Arbeiterinnen*block, einen winzigen queeren Block und weitere Kollektive wie etwa das mit der zapatistischen Bewegung sympathisierende Solidaritätskollektiv Red de Rebeldia Resistrenzas Puebla. Die Aktivistinnen* tragen die Paliacates, die typischen zapatistischen Halstücher, und schwarze Schleifen zum Zeichen der Trauer der getöteten Frauen*.
Wir laufen einer Hauptachse der Stadt entlang, es vergeht keine stille Sekunde. «Por qué, por qué, por qué nos asesinan? Si somos la esperanza de América Latina?» (Warum, warum, warum töten sie uns? Wenn wir doch die Hoffnung Lateinamerikas sind?) Es wird gekleistert, die Metrostation getagt, die Statue der Stadt verschönert. Das Staatsanwaltschaftsgebäude erstrahlt in neuer Farbe. Auch dies etwas Ungewohntes in Puebla. Anna*, Poblana und Lesbiana, war eine von denen, die sich dieses Jahr zum Sprayen entschied: «Es war sehr schön. Ich persönlich sehe den Tag als grossen Erfolg, denn es kamen sehr viele neue Frauen* an die Demo, die noch nie an einer Demo teilnahmen. Ich habe zusammen mit anderen gemalt und es hat Spass gemacht! Auch wenn es Leute gab, die uns daran hindern wollten.» Zusammen mit dem zweiten Demozug treffen wir auf dem Zócalo ein. Die feministische Performance «el violador eres tú» (der Vergewaltiger bist du) wird aufgeführt: «El estado opresor es un macho violador!» (Der unterdrückerische Staat ist ein machistischer Vergewaltiger). Gezeigt wird auf das Stadthaus.
Feminizid: Der Staat als Vergewaltiger
Die zentrale Forderung des Frauen*kampftages in Mexiko ist sonnenklar: die Gewalt an Frauen* muss ein Ende nehmen. Die Erstarkung der feministischen Bewegung steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem horrenden Ausmass an Feminiziden und der alltäglichen Gewalt gegen Frauen* in Mexiko und Mittelamerika. Täglich werden in Mexiko zehn Frauen* ermordet. Seit 2006 bis heute gelten mehr als 15000 Frauen* in Mexiko als verschwunden und vermisst. Die Feminizidrate steigt und steigt. 2019 erreichte sie ihren Höchstwert im 21. Jahrhundert. Dabei muss die Situation von indigenen Frauen* nochmals differenziert betrachtet werden. Sie sind einer vielfachen Diskriminierung ausgesetzt und es besteht eine hohe Dunkelziffer. Das liegt am erschwertem Zugang zur Justiz, durch ökonomische und sprachliche Barrieren, aber auch an den rassistischen Behörden, die Anzeigen und Verfahren fast immer ins Leere laufen lassen. Ausserdem werden Alter und Ethnie selten in den Statistiken erfasst.
Die südafrikanische Soziologin Diane Russell verwendete 1976 erstmals den Begriff des Femizids. Frauen* werden getötet, weil sie Frauen* sind. Russell beschreibt eine Politik der Kontrolle, Unterwerfung und Bestrafung – letztlich die Tötung – von Frauen* durch Männer, die auf ihrer patriarchalen Macht fusst. Die mexikanische Anthropologin Marcela Lagarde konzipierte den Begriff des Feminizids 1997 massgeblich neu. Ein Feminizid muss im Kontext vorhergehender und andauernder Gewaltanwendung verstanden werden und Feminizide zeichnen sich durch eine besondere Brutalität aus, beinhalten meist sexualisierte Gewalt sowie Schändung des Körpers. Feminizide sind nur der Gipfel der Gewalt gegen Frauen*. Lagarde verweist auf die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Strukturen, in die Frauen*morde eingebettet sind. Somit werden Schuld und Verantwortung nicht nur den Mördern, sondern auch der Justiz, der Politik, den Medien und der Polizei zugewiesen. Diese systemische Schuld zeigt sich etwa in der Straflosigkeit der Täter, die in vielen Ländern bis zu 98 Prozent erreicht. Feministinnen* verwenden den Begriff der Epidemie und Pandemie, um die gesellschaftliche Dynamik und das weltweise Ausmass der Frauen*morde zu verdeutlichen.
Die Wut angesichts dieser strukturellen Gewalt ist in ganz Lateinamerika riesig und befeuert die feministischen Bewegungen. «Pinche Gobierno, cuéntanos bien!» (Scheiss Regierung, zähle uns genau!»). Die steigende feministische Kritik richtet sich grundlegend an einen Staat, der auch seit dem Regierungswechsel 2018 tatenlos bleibt. Die mexikanischen Feministinnen* greifen das neue linke Regierungssystem des Präsidenten Andrés Manuel López Obrador an, das sich als weiteren korrupten und machoiden Staatsapparat präsentiert. Der Präsident meinte, die Feminizide seien ein Erbe der neoliberalen Regierungen, die nun ja beendet seien und die Feministinnen* sollen bitte aufhören, Denkmäler und Monumente zu besprayen und zerstören. Wenige lassen sich von dieser Aufforderung beeindrucken. Eine Mutter einer ermordeten Tochter kontert: «Ich werde niemanden um Erlaubnis fragen. Ich habe jedes Recht, Dinge anzuzünden und zu zerstören.» Das Video ging viral.
Fakt ist, die Zahl der Feminizide hat sich seit 2015 verdoppelt. Justiz und Polizei waren nie eine Hilfe, wenn es um die Verfolgung von Tätern, das korrekte und sichere Durchführen von Prozessen oder das alltägliche Sicherheitsgefühl der Frauen* geht. Zu viele Anzeigen gegen Staatsbeamte liegen vor, etliche Verfahren liegen still oder werden gar nicht erst aufgenommen. Die Antwort kann kaum in der Forderung an den Staat nach mehr Sicherheitsaufgebot in Form von Videoüberwachung und Polizeipatroullien liegen. Die Antwort liegt vielmehr in der Selbstorganisierung. Viele Feministinnen* verdeutlichen dies in den sozialen Medien, in Flyern, mit Sprays oder auf Transparenten mit der Aufschrift «A mi me cuidan mis amigas – no la policía» (Um mich kümmern sich meine Freundinnen – nicht die Polizei).
In der Hauptstadt Mexikos sind direkte Aktionen der feministischen Szene seit längerem nichts Ungewohntes mehr. Im August 2019 löste die Vergewaltigung einer Minderjährigen durch Polizisten heftige Proteste aus – insbesondere nachdem die Polizei verkündete, sie wolle den Fall einstellen und ein zweiter Vergewaltigungsfall durch die Polizei öffentlich wurde (https://piedepagina.mx/once-dias-de-filtraciones-sobre-violencia-sexual-de-la-policia/). Es kam zu Demonstrationen mit hohem Sachschaden, unter anderem wurden die Glastüren des Verwaltungsgebäudes eingeschlagen, eine Polizeistation angezündet und eine Metrostation zerstört. Aber auch die Medien sind ein beliebtes Angriffsziel. Denn diese tun ihren Teil, wenn sie ermordete und geschändete Frauen*körper auf der Frontseite abdrucken. So wurde etwa die 25-jährige Ingrid Escamilla am 9. Februar 2020 von ihrem Freund brutal ermordet. Die Polizei nahm den Ehemann fest und spielte der Presse die Fotos der Leiche zu, worauf diese am darauffolgenden Tag unter dem Titel «Amor ist Schuld» in einer Zeitung veröffentlicht wurden. Es folgte eine grosse Protestwelle mit etlichen Sachbeschädigungen. Kritik an diesen Aktionen ist für viele ein Hohn. Eine Mutter, deren Tochter ermordet wurde, meint: «Die drucken unsere schönen nackten Körper als Konsumobjekte, veröffentlichen unsere toten Körper als Trophäe und regen sich darüber auf, dass wir Parolen sprühen oder ein paar ihrer Autos anzünden?» Und auch am vergangenen 8. März wurde diese Wut auf die Strasse getragen. Neben etlichen Graffitis wurden Scheiben von Hotels eingeschlagen, Barrikaden errichtet, die Türen einer Bank angezündet und Polizeiwagen zertrümmert.
Streik: Am Neunten bewegt sich keine!
«Wenn sie uns verbrennend und schreiend nicht hören, sollen sie uns gar nicht mehr sehen!» Nach den riesigen Demonstrationen und zahlreichen Aktionen am 8. März wurde für den Montag, 9. März zum nationalen feministischen Streik aufgerufen. Gemäss dem Aufruf sollte weder eingekauft, gekocht, öffentliche Verkehrsmittel benutzt, zur Arbeit gegangen noch irgendetwas in den sozialen Medien gepostet werden. Durch das «Verschwinden» aus der Öffentlichkeit sollte auf die Wichtigkeit der Rolle der Frauen* in der Gesellschaft aufmerksam gemacht werden.
In einigen Kreisen wurde die Idee des Streiks aber auch kritisiert: «Wieso sollen wir uns unsichtbar machen, wenn wir so wütend sind?» meinte eine Studentin. Fakt ist, dass an jenem 9. März die Strassen Mexiko-Stadts seltsam leer waren, die Wäscherei gegenüber meiner Wohnung geschlossen war und die Metrobusse laut Medien äusserst viele freie Plätze hatten. Dem Aufruf sind Frauen* verschiedenster Klassen, Hausfrauen* und Erwerbstätige, Sekundarschülerinnen* und Strassenverkäuferinnen* nachgekommen. Beobachter*innen schätzen, dass sich mindestens 8 Millionen Frauen* am Streik beteiligten. Zum Vergleich: Die Gesamtzahl der berufstätigen Mexikanerinnen liegt gemäss dem Nationalen Institut für Statistik (INEGI) bei gut 22 Millionen. Ebenfalls gemäss INEGI meldeten die Wirtschaftssektoren am 9. März massive Personalnotstände. Im Tertiärsektor etwa fehlte bis zu 49 Prozent des Personals, im Primärsektor 38 Prozent.
Auch die zapatistischen indigenen Frauen* der EZLN (Ejército Zapatista De Liberación Nacional) haben sich am 8. März zu Wort gemeldet und sich dem Aufruf zum nationalen Streik des 9. März angeschlossen. «Am 8. März werden wir, Tausende Zapatistinnen, uns in unseren Caracoles treffen und über die Schmerzen und die Wut sprechen, von denen wir in den zwei Frauen*treffen, die stattgefunden haben, gehört haben. Aber wir werden auch von unseren und von euren Kämpfen sprechen, von den Genossinnen* und Schwestern*, die uns lesen. Und am 9. März werden viele von uns nicht in unsere Dörfer zurückkehren, sondern bleiben und im Morgengrauen dieses 9. Märzes Tausende Kerzen anzünden. In den Caracoles und in den zapatistischen Gemeinden wird das Licht der Frauen* leuchten.»
Streiks auch an den Universitäten
Streiks sind in Mexiko keine ungewohnte Aktionsform. Gestreikt wird momentan auch an den Universitäten. Die philosophische Fakultät der Universität UNAM (Universidad Nacional Autónoma de México) in Mexiko-Stadt ist seit November 2019 besetzt. Der Streik wird von Feministinnen* angeführt. Auch in Puebla traten diverse Universitäten vor kurzem für zwei Wochen in den Streik, nachdem drei Medizinstudenten und deren Taxifahrer auf dem Land bei der Arbeit ermordet wurden. Der Streik wurde aber schnell von der Universitätsleitung instrumentalisiert, um Druck auf die Stadtregierung auszuüben. Die Universität steht wegen korrupten Machenschaften mit der Regierung in Konflikt. Die Studierenden begannen sich gegen diese Vereinnahmung zu wehren, Kritik am Rektorat wurde laut, es gab autonome Abspaltungen, die radikalere Forderungen erhoben. Nachdem die Universitätsleitung nach zwei Wochen das Ende des Streiks verkündete, blieben einige Fakultäten gegen deren Willen im Streik. Die Zugkraft dieser Bewegung sind unübersehbar die Studentinnen*. Kaum zwei Tage nach Beginn des Streiks hagelte es die ersten Anzeigen gegen Professoren und Universitätsangestellte. Die Vorwürfe: sexuelle Übergriffe und Belästigungen, Vergewaltigungen. Über 300 Anzeigen liegen nun vor, die vom Rektorat verlautbarten Massnahmen zur Beseitigung der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts werden von den Studentinnen* als lächerlich bezeichnet: «Nichts wird geschehen, wenn wir den Streik nun nicht aus eigener Kraft fortsetzen», schliesst eine junge Frau an einem vor kurzem ins Leben gerufenen Treffen zur Vernetzung studierender Frauen*. «Nun beginnt der wahre Streik. Der Streik gegen das Patriarchat!» Denn jene, die Anzeige erstattet haben, müssen psychischen Drohungen, Belästigungen oder akademische Konsequenzen wie schlechte Benotung befürchten. Hingegen rechnet niemand damit, dass den Anzeigen Konsequenzen folgen. Die Sicherheitsrisiken, denen Student*innen ausgesetzt sind, sind also bei weitem nicht nur «ausserhalb» der Institution zu suchen, wie dies von der Universitätsleitung dargestellt wurde.
Liberale und Rechte wollen mitmischen
Die feministische Bewegung in Mexiko wächst. Sowohl in den Ausdrucksformen als auch in den politischen Ausrichtungen. Die Bewegung ist unumgänglich geworden, unübersehbar, divers und konfliktiv. Und so gibt es auch immer wieder Versuche, die feministische Bewegung zu institutionalisieren und zu instrumentalisieren. Schnell haben sich auch Partidistas, also Parteiabgeordnete, Gemeindeverwaltungen und Universitäten dem Streikaufruf vom 9. März angeschlossen und beispielsweise versprochen, dass jene Frauen*, die der Arbeit oder Schule fernblieben, mit keinen Konsequenzen rechnen müssen.
Der Versuch der Instrumentalisierung der feministischen Bewegung sowie der Zulauf von reaktionären und liberalen Kräften sorgt vielerorts für Unmut. Das feministische Kollektiv Frente radical feminista de Puebla, das sich vor knapp einem Jahr gegründet hat, beteiligt sich dieses Jahr an Aktionen rund um den 8. und 9. März. «In den letzten Jahren gab es vermehrte Mobilisierungen von verschiedenen feministischen Gruppen. Der Feminismus erlebt hier einen Aufschwung, aber wir beobachten auch, dass dieser Zuwachs mit einer Liberalisierung der Bewegung einhergeht.» Einer Gruppe von FLINT, die sich seit dem «Treffen der Frauen, die kämpfen», zu dem die Zapatistinnen* Ende Dezember 2019 in Chiapas eingeladen haben, regelmässig in Puebla treffen, ging es ähnlich. Ohne dass dies aktiv kommuniziert wurde, liefen im vordersten Teil der Demo am 8. März ein Block der Rechtspartei PAN mit. Aus diesem Block kamen dann auch die Rufe und Aggressionen, als die FLINT begannen, Parolen zu sprayen. «Ich möchte generell nicht in einer feministischen Demo mit PANistinnen* laufen!», erklärt Lucero aus der Gruppe.
Die Bewegung scheut den Konflikt nicht
Der Kontext, in dem sich die feministische Bewegung in Mexiko bewegt ist kapitalistisch, patriarchal, rassistisch und hat eine koloniale Vergangenheit. Diese letzte Komponente muss zwingend berücksichtigt werden, wenn von der Komplexität und Vielschichtigkeit der Lebensrealität und Unterdrückung von FLINT in Lateinamerika gesprochen wird. Die feministischen Kämpfe, die hauptsächlich die Problematik der Gewalt an Frauen* thematisieren, beziehen sich kaum auf die mehrschichtige Betroffenheit indigener Frauen*. Aus dieser Ausbeutung der indigenen Frauen* entwuchs aber auch ein starker Widerstand, denn im Kampf der indigenen Gemeinschaften spiel(t)en Frauen* eine zentrale Rolle. Auch die feministische Bewegung Pueblas widerspiegelt die rassistische Gesellschaft Mexikos. Es gibt aber auch Feministinnen* die von den Kämpfen der indigenen Frauen* lernen wollen. Rahel, ein weiteres Mitglied des Kollektivs Diálogo insurrecto äussert sich folgendermassen: «Die feministische Bewegung verändert sich durch die Erfahrungen, die jede einzelne Frau* macht. Wie die Zapatistas sagen: Wir gehen mit den Schritten von jener voran, die am langsamsten läuft, wir arbeiten zusammen. Es gibt verschiedene Feminsmen, darauf haben die Genossinnen* stets hingewiesen. Ich glaube, dass die Veränderung der Bewegung mit der Reflexion und in den Räumen beginnt, in denen neue Genossinnen* mit älteren, die schon mehr Erfahrung haben, zusammenkommen.»
Mit der Ausweitung der feministischen Bewegung kommt es zwangsläufig auch zu innerfeministischen Differenzen. Das Kollektiv Frente radical feminista de Puebla vertritt eine Haltung, die in Puebla für eine Spaltung sorgt: Diana* erklärt mir: «Unser Separatismus basiert darauf, dass wir die Sicherheit aller Beteiligten in diesem Raum garantieren wollen, ein Raum von und für Frauen. Wir, die uns als Abolistinnen bezeichnen, kritisieren das Konstrukt Geschlecht, weil es ein Mechanismus ist, der uns unterdrückt, und wenn wir dieses zerstören wollen, müssen wir es abschaffen. […] Transpersonen und Selbstdefinitionen erlauben wir hier nicht, denn sie glauben, dass das Frausein ein Gefühl ist, und wir gehen davon aus, dass das Frausein damit beginnt, wenn wir mit einer Vulva geboren werden.» Dieser Haltung widersprechen zwei Frauen* des Kollektivs Diálogo insurrecto. Diesen transexklusiven, biologisch-essentialistischen Feminismus möchten sie nicht teilen. Und hier stellt sich ihnen eine Frage, die sie im nächsten Treffen zur Reflexion des 8. März besprechen möchten: «Einerseits ist es toll, wenn wir so viele auf der Strasse sind und uns zusammen organisieren. Aber ich möchte nicht in derselben Demo laufen, in der sich Transpersonen unwohl fühlen oder gar ausgeschlossen werden. Ich möchte auch nicht an Sitzungen teilnehmen, an denen Leute sind, die diese Position vertreten.» Für eine non-binäre Aktivistin* war die Demonstration anstrengend, unangenehm und sie* fühlte sich nicht willkommen. Der queere Block war viel zu klein und am Besammlungsort schwer auffindbar. «Dieser Tag war für mich sehr stressig», fasst sie* ihre Gefühle zusammen.
Und der Kampf geht weiter und weiter
In der radikalen Linken Mexikos bewegt sich was. Ein Gefühl der Euphorie ist trotz Wut und Trauer in vielen Gesprächen zu spüren. Die Mobilisierungen der beiden Tage sprechen für sich. Gleichzeitig sprechen auch die Zahlen der Feminizide eine weitere traurige und erschreckende Sprache. Und auch sexistische Witze erhalten nach wie vor Tausende von Likes und die Verwendung des Begriffs «Femi-Nazi» ist fast so geläufig wie Tortilla. Aber es scheint, dass das Mass übervoll ist, Ohnmacht und Schmerzen führen bei vielen zur Bewusstseinswerdung und trotz Gefahr zu Widerstand. Das Misstrauen gegenüber dem Staat zieht sich bis weit in die Mitte der politischen Positionen. Das Konzept «autocuidado» (kollektive Fürsorge), die Selbstorganisation und die Staatskritik sind in verschiedensten Kontexten präsent.
Die feministische Bewegung steht aber auch vor Herausforderungen. Da sind die Versuche einer «Neoliberalisierung» der feministischen Anliegen. Und da ist die Gefahr, dass sich die innerfeministischen Gräben mit der Ausweitung der Bewegung noch grösser werden. Angst wäre jedoch die falsche Antwort. Der sozialen und inhaltlichen Spannbreite dieser Entwicklung darf mit einer grundsätzlichen Lust auf Vielfalt begegnet werden. Das soll nicht heissen, dass Forderungen abgeschwächt oder Kritik an bestimmten Feminsmen verstummen sollen. Im Gegenteil soll dies Teil des Kampfes sein und ermutigen. So wie die viel zitierten zapatistischen Kämpfer*innen stets verkünden: La lucha sigue y sigue.
**Die Autorin ist weiss, Europäerin und von einem solchen Feminismus sozialisiert. Momentan lebt sie in Mexiko.
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