Der Aufschwung der feministischen Bewegung ist ungebrochen und damit auch die Kritik am Patriarchat. Linke Männer tun sich allerdings schwer damit, ihre Position und Sozialisation in der patriarchalen Gesellschaft zu reflektieren. Dieser Text wagt einen Versuch.
Das Selbstbild westlicher Gesellschaften ist heutzutage durch die Idee der Chancengleichheit geprägt. Es wird moniert, dass es noch einige Mängel zu beheben gebe, aber ansonsten bewege sich die Gesellschaft kontinuierlich in Richtung Gleichberechtigung. Patriarchale Verhältnisse werden vor allem in «anderen Kulturen» vermutet. Erinnern wir uns beispielsweise an den medialen Aufschrei rund um die «Silvesternacht von Köln» im Jahr 2015, im Zuge dessen sich auch viele Liberale den ekelhaftesten rassistischen Klischees hingaben. Überspitzt formuliert lässt sich die «Debatte» wie folgt zusammenfassen: In einer angeblich «aufgeklärten» westlichen Welt sei sexualisierte Gewalt ein Importprodukt «zurückgebliebener Kulturen». So inszenierten sich selbst hypermaskuline rechte Männer als Beschützer westlicher Wertvorstellungen im Umgang mit Frauen. Über hegemoniale Männlichkeit wurde im Zuge der Übergriffe, wenn überhaupt, nur am Rande gesprochen.
Der feministische Aufschwung der letzten Jahre führte dazu, dass das Thema Männlichkeit selbst im medialen Mainstream vermehrt behandelt wird. So ist etwa im Modemagazin «Vogue» zu lesen, dass traditionelle Männerrollen überholt seien und moderne Formen von Männlichkeit entwickelt werden müssten. Der moderne Mann soll sich nicht mehr durch Härte, Emotionslosigkeit, Dominanz und Unabhängigkeit auszeichnen. Stattdessen sollen andere Eigenschaften in den Vordergrund treten, die parallel zur geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung bis anhin eher mit «Weiblichkeit» assoziiert wurden. Problematisch ist, dass dabei ignoriert wird, wie Männlichkeitsideale mit patriarchalen Macht- und Unterdrückungsstrukturen verwoben sind. Auch geht diese Art der Betrachtung von Männlichkeit mit dem Anspruch einher, Geschlechterrollen durch blosse Selbstreflexion zu überwinden. Traditionelle Männlichkeitsideale sollen einem modernen, alternativen und kritischen Männlichkeitsideal weichen.
Diesen Anspruch teilen auch viele linke Männer. Doch meist herrscht selbst in linken und anarchistischen Kreisen eine mangelnde Auseinandersetzung mit der eigenen Männlichkeit und den gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen innerhalb derer sich die hegemoniale Männlichkeit konstituiert. Dass es in der linken Bubble oft bei Lippenbekenntnissen zum Feminismus bleibt und die Reflexion über die eigene Rolle innerhalb patriarchaler Verhältnisse ebenso wie die Aufarbeitung sexistischer Verhaltensmuster vermieden werden, thematisierten zuletzt die RJG FLINT* in ihrem Statement zur Auflösung der Revolutionären Jugendgruppe Bern.
Das Selbstbild linker und anarchistischer Männer geht mit einer Selbstüberhöhung einher, die Selbstkritik vermeiden soll. Patriarchale Verhaltensmuster werden externalisiert, also auf «die anderen», nicht-linken Männer projiziert. Es wird so getan, als ob die Selbstetikettierung als Anarchist, Kommunist oder revolutionärer Linker automatisch eine antisexistische Haltung mit sich bringe. Dabei inszenieren sich linke Männer als reflektierter und besser als die Männer ausserhalb der Szene. Die Gegenüberstellung von linken und nicht-linken Männern wird einer kritischen Auseinandersetzung mit patriarchalen Verhältnissen nicht gerecht. Es ist nicht nur eine Auseinandersetzung mit feministischer Theorie und Praxis notwendig – meines Erachtens insbesondere in ihrer materialistischen und antiautoritären Ausprägung – sondern auch eine Reflexion und Anerkennung der eigenen Sozialisation und Rolle innerhalb der patriarchal geprägten Gesellschaft.
Dieser Text ist ein Versuch, mich dem Phänomen der Männlichkeit(en) sowohl allgemein, als auch mit Blick auf meine eigene Biographie und Sozialisation zu nähern. Ich fokussiere mich darauf, wie kulturell vermittelte Vorstellungen von Männlichkeit bis tief ins unbewusste psychische Leben Eingang finden. Diese Auseinandersetzung bleibt somit skizzenhaft, trägt sehr subjektive Züge und ist vor allem phänomenologischer Natur. Diese Subjektivität ist dennoch objektiv – also durch die patriarchale Gesellschaftsordnung – vermittelt, weshalb ich hoffe, dass dieser Text einen Beitrag zur einführenden Auseinandersetzung mit Männlichkeit, Sexismus und Patriarchat liefern kann.
Männlichkeiten als Abgrenzung
Keine spezifische Form von Männlichkeit steht für sich allein, sie entsteht immer im Spannungsverhältnis mit und in Abgrenzung gegenüber dem, was nicht der Norm entspricht. Vor allem entsteht sie in Abgrenzung gegenüber der Weiblichkeit, aber auch gegenüber der Homosexualität oder anderen Formen des nicht heterosexuellen Begehrens oder der nicht binären Geschlechtsidentität. Männlich sozialisierte Personen lernen, dass sie angeblich über Frauen, Lesben sowie inter, nichtbinären, trans und agender Personen (FLINTA) stehen und profitieren auf verschiedenen Ebenen von patriarchalen Strukturen. Sie haben beispielsweise einfacheren Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen und sind nicht auf dieselbe Art und Weise sexistischer Gewalt ausgesetzt wie Frauen. Wobei natürlich auch betont werden muss, dass die Kategorie Frau ebenfalls in unterschiedliche Herrschaftsverhältnisse eingebettet ist (z.B. race, Klasse, Religion etc.).
Dabei darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass nicht alle Männer die gleichen Vorteile aus patriarchalen Strukturen ziehen und dass auch Männer unter dem Patriarchat leiden. Die Stellung von Männern in patriarchal-kapitalistischen Gesellschaften bedarf in dieser Hinsicht weiterer Differenzierungen, die unterschiedlichen Macht- und Unterdrückungsverhältnissen gerecht werden: Nicht nur Klassenverhältnissen und rassistische Strukturen, sondern auch die mit dem Patriarchat verwobene Heteronormativität muss miteinbezogen werden. Der Begriff der hegemonialen Männlichkeit unterstreicht jene Hierarchisierung, denen Männer ausgesetzt sind und hebt hervor, dass es nicht nur eine einzige Form von Männlichkeit gibt, sondern dass verschiedene Konzepte von Männlichkeiten existieren. Diese sind ihrerseits immer in einen spezifischen historischen, sozialen, politischen und kulturellen Moment eingebettet.
Du musst dominant, unabhängig, rational, siegessicher und stark sein!
Eine der ersten kulturindustriellen Produktionen an die ich mich erinnere, ist eine Detektiv-Seifenoper, die immer bei meiner Grossmutter lief. Die Taten des heldenhaften Bullen führten nicht nur dazu, dass ich während meiner Kindheit eifrig betonte, dass ich nicht nur Fussballspieler, Sänger und Schauspieler, sondern auch Bulle werden wollte, sie dienten mir auch zu einer sehr frühen und unbewussten Identifikation mit der Männlichkeit der Hauptfigur der Seifenoper – die ich mit den Männern in meiner Familie assoziierte. Ich war wahrscheinlich fünf Jahre alt, als ich versuchte, eine Spielkumpanin leidenschaftlich auf den Mund zu küssen. Ganz so wie es mir der Serienheld vorgemacht hatte, der sich Frauenkörper einfach nach Lust und Laune nahm. Die Geschenke, die mein Bullenheld seiner Geliebten machte, versuchte ich zu imitieren, indem ich – treu dem Grundsatz, dass der Mann die Frau zu verführen hat – Schmuckstücke meiner Grossmutter stahl und sie einem Mädchen im Kindergarten schenkte. Sie verstand meine «romantische» Geste nicht und ich selbst wusste auch nicht genau was ich tat. Es war mir nicht bewusst, was ich da imitierte. Also hüpften wir einfach im Matratzenzimmer umher. Es ist erschreckend, wie schnell Kinder die kulturindustrielle Ausprägung der hegemonialen Männlichkeit internalisieren können und wie das familiäre Umfeld diese zusätzlich zementiert.
Dass ich einer bestimmten Geschlechterrolle entsprechen muss, wurde mir erst durch den Sport allmählich klar. Existierte während des geschlechterdurchmischten Kampfsportunterrichts, an dem ich als Fünfjähriger teilnahm, noch eine Stimmung der gemeinsamen Rücksichtnahme, so änderte sich das drastisch, als ich begann, in einem Fussballverein zu trainieren. Dort wurden Konkurrenzdenken, ein unbändiger Siegeswille und Furchtlosigkeit erwartet. Nicht nur vom Trainer, sondern auch von meinem Vater. Dass ich meine Freude am Fussball verlor und meist regungslos und voller Angst auf dem Spielfeld stand, interessierte kaum jemanden. Im Fussballverein bekam ich immer wieder zu hören, ich solle kein Angsthase sein, sondern mich zusammenreissen, kämpfen und den anderen zeigen, was ich kann. Erfüllte ich diese Erwartungen nicht, wurde ich von meinem Vater verspottet oder ignoriert. Ich ahnte nicht, dass all die dominanz- und konkurrenzbasierten Erwartungen («sei kein Angsthase», «du musst es ihnen zeigen und kämpfen», «du musst gewinnen und besser sein als die anderen») eine Abgrenzung gegenüber dem «Weiblichen» und auch gegenüber untergeordeneten Formen der Männlichkeit waren. Sie waren also ein Ausdruck von hegemonialer Männlichkeit. All dies wurde mir von Personen vermittelt, in deren Welt- und Selbstbild diese Abgrenzung so tief verankert war, dass sie ihnen gar nicht mehr auffiel. Den Spruch «komm schon, wein nicht, du musst ein Mann sein» bekam ich während meiner Kindheit und Jugend immer wieder zu hören, sowohl von Männern, wie auch von Frauen. Dies ging mit der Tatsache einher, dass die meisten meiner männlichen Familienmitglieder allerlei Emotionen ausser eine genuine Verletzlichkeit öffentlich zeigten und lässt erahnen, wie sich kulturell vermittelte Verhaltensmuster Schritt für Schritt in der Psyche verankern. Vielen Männern fällt es schwer, Schwäche und Verletzlichkeit einzugestehen. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit psychischer Erkrankungen oder Suchtverhalten. Männer sind zu stolz, um Hilfe zu suchen, weil das Männlichkeitsideal verlangt, jedes Problem als Einzelkämpfer zu bewältigen.
Mit dem Kopf durch die Wand
Das Ideal des Einzelkämpfers ist gekoppelt an die Idee der Unabhängigkeit, die wiederum als Stärke gilt. Der männliche Selbstanspruch zur Unabhängigkeit gerät jedoch vor allem während der Pubertät in die Krise – und hallt auch bei vielen erwachsenen Männern ein ganzes Leben lang nach. In der Pubertät rückt das sexuelle Begehren immer mehr in den Mittelpunkt.1 Da die Sexualaufklärung sowohl in Schulen als auch in der Familie meist zu kurz kommt, werden kulturindustrielle Produktionen für viele Jugendliche zum primären Orientierungspunkt. Darin wird der männliche Zugriff auf Frauenkörper als Selbstverständlichkeit und sogar als Recht des Mannes dargestellt. Dies betrifft nicht nur Mainstream-Pornos, sondern auf subtilere Art und Weise auch Seifenopern, Filme, Literatur, Musik. Im «realen» Leben sehen sich pubertierende heterosexuelle Männer jedoch damit konfrontiert, dass die Befriedigung ihres sexuellen Begehrens von eigenständigen und selbst denkenden Frauen abhängig ist. Dadurch entsteht eine Diskrepanz in der männlichen Psyche: Die Unabhängigkeit, die vom gesellschaftlich vermittelten Männerideal gefordert wird, sieht sich durch die Abhängigkeit des sexuellen Begehrens durch die Frau begrenzt, was bei einigen Männern zu einer Kränkung führen kann. Es ist vor allem in dieser Phase der männlichen Persönlichkeitsentwicklung, in der sich die Veranlagung zu übergriffigem Verhalten verstärkt. Das vermeintliche Recht auf den Frauenkörper gehört zum patriarchalen Unterbewusstsein und ein Verzicht darauf führt bei männlich sozialisierten Personen zu einem Gefühl des Mangels, denn die Unabhängigkeit und das eigene Mann-Sein werden dadurch in Frage gestellt.
Übergriffiges Verhalten, das durch das unterbewusst internalisierte Ideal des Anspruchs auf Frauenkörper verursacht wird, kann unterschiedliche Formen annehmen: Von sexistischen Bemerkungen (oft getarnt als Ironie), unerwünschter Aufmerksamkeit (auch unter dem Deckmantel der «Romantik») über Stalking, eifersüchtige Kontrollsucht oder psychische Manipulation in Beziehungen bis hin zu sexualisierten Übergriffen und Gewalt. Wir täten falsch daran, sexuell übergriffiges Verhalten und generell gewalttätiges Verhalten zu individualisieren. Im Gegenteil muss offen gesagt werden: Die patriarchal-männliche Sozialisation macht jeden Mann zum potentiellen Täter.
Der Fetischcharakter der Männlichkeit
Allzu oft werden bestimmte Verhaltens- und Denkmuster lediglich als persönliches Charakterdefizit wahrgenommen, ohne gesellschaftliche Prozesse zu reflektieren, die zu diesen Mustern führen. Die Art und Weise, wie man begehrt oder was man unter Liebe oder Sexualität versteht, ist nie nur individueller Natur, sondern immer auch historisch-gesellschaftlich vermittelt. Es existiert auch eine Tendenz dazu, jegliches Verhalten hormonell-biologisch erklären zu wollen, als wäre der Mensch lediglich ein Reiz-Reaktions-Körper ohne Willen und Bewusstsein. Gehen wir in dieser Hinsicht nochmals kurz auf das kulturindustriell vermittelte Ideal heterosexueller Sexualität ein und das damit verbundene «Recht auf den Frauenkörper»: Die Kulturindustrie (dazu gehören Filme, Bücher, Lifestylemagazine, Musik) vermittelt ein Bild der Frau, das sie auf ihr Äusseres reduziert. Sie sind sozusagen Objekte, die das sexuelle Begehren des Mannes erwecken und stillen müssen.2 Ich erinnere mich an Alkoholwerbungen in Südamerika, in welchen der Alkohol als Mittel gepriesen wurde, um sich seiner Hemmungen zu entledigen und endlich mit den heissen, halbnackten Frauen mit den riesigen Brüsten zu tanzen. «Werde ein echter Mann und schnapp dir eine (betrunkene) geile Frau», lautete die implizite Botschaft. Im Fernsehen trugen Moderatorinnen enge Kleider, die ihre Figur betonten und Musikerinnen zeigten viel Haut um eine höhere männliche Einschaltquote zu erzielen. Der angeblich triebgesteuerte Mann, der nur an Sex denkt, muss durch die Kulturindustrie mit dem Begehren nach dem weiblichen Körper gefüttert werden, denn «Männer wollen nur das eine». Das höchste Stadium der heterosexuellen, männlichen sexuellen Lust? Die Penetration! Penetration und Sexualität werden im Rahmen der hegemonialen Männlichkeit gleichgesetzt und als etwas betrachtet, durch das Dominanz gesichert wird.
Sex in der Leistungsgesellschaft
Wenn ich in meiner Jugend mit männlich sozialisierten Personen über Sex sprach, so waren oft Ausdrucksformen wie «ich habe sie gefickt» zu hören, während meine weiblich sozialisierten Freundinnen eher von «wir haben rumgevögelt» sprachen. «Gefickt werden» ist im Rahmen der Männlichkeit ein negativ konnotierter Ausdruck, denn penetriert zu werden ist gleichbedeutend mit dominiert zu werden. Wenn also Männer damit prahlen, mit jemandem Sex gehabt zu haben, um ihr Ego zu stärken, dann drücken sie damit eine Dominanzsehnsucht aus: Die Frau war meinem Penis (und damit mir selbst) untergeordnet. Die phalluszentrierte Sexualität wird zu einem identitätsstiftenden Merkmal, das Stärke, Souveränität und Dominanz symbolisiert. Sexuelle Potenz lässt den Mann fühlen, dass er ein Mann ist.
Der Druck, sexuelle Leistung zu erbringen, ist bei der Mehrheit der Männer seit der frühen Jugend präsent. Sollte bei einem Mann die sexuelle Lust mal nicht vorhanden sein oder hat er über längere Zeit keine Sexualpartnerin, leidet seine Identität darunter. Selbst in Paarbeziehungen kann es vorkommen, dass die mangelnde sexuelle Lust des Mannes pathologisiert wird, was den Mann dazu drängt, sich einem Männlichkeitsideal anzupassen, das ihm nicht entspricht. Statt zu akzeptieren, dass sexuelle Lust individuell ist und Schwankungen unterliegt und mit anderen Formen der Sexualität und Nähe zu experimentieren, müssen sich die Männer zusammenreissen, um die sexuelle Leistung zu erbringen, welche die patriarchal geprägte Gesellschaft und angeblich auch ihre Partnerinnen erwarten. Die Penetration wird dabei als etwas betrachtet, das nicht nur die sexuelle Lust des Mannes stillt, sondern steht auch für das Begehren des Mannes gegenüber der Frau, das sie als begehrenswertes sexuelles Objekt bestätigt. Die Frauen unterliegen hierbei selbst auch einem sozialen Druck, weil bei fehlendem Begehren ihrer Partner der Verdacht aufkommt, hässlich oder schlecht im Bett zu sein. All dies zementiert die heterosexuellen Geschlechternorm, wonach Männer und Frauen ihren traditionellen Rollen nur vermittelt durch die phalluszentrierte Sexualität gerecht werden können.
Männlichkeit und Homosexualität
Die Abgrenzung gegenüber der Homosexualität ist ein zentraler Bestandteil des hegemonialen Männlichkeitsideals. Homosexualität stellt eine permanente Bedrohung dar. Ich weiss noch, wie ich im zarten Alter von neun Jahren als «Schwuchtel» bezeichnet wurde, weil ich ein Ohrring am rechten Ohr trug. Ohrring am rechten Ohr? Das ist schwul! Ohrring am linken Ohr? Das ist männlich! Ohrringe an beiden Ohren? Dann bist du eine Frau! Was schwul sein bedeutete, wusste ich zu diesem Zeitpunkt genauso wenig wie die meisten kleinen Kinder, die das Wort «Schwuchtel» benutzten um mich zu beleidigen. Als ich Lehrpersonen und meine Eltern fragte, was «Schwuchtel» überhaupt bedeutet, wurde mir gesagt, dass das ein «böses Wort» für Männer sei, die auf andere Männer stehen. Daraufhin entfernte ich meinen Ring am rechten Ohr so schnell wie möglich und liess mir mein linkes, männliches, Ohrläppchen durchstechen. «Schwuchtel» war sowieso während meiner ganzen Jugendzeit das schlimmste Schimpfwort von allen, denn es bezeichnete eine Art Verräter des Männlichkeitsideals zu sein oder noch schlimmer eine «sexuell gestörte» Person, ein Perversling, der nur darauf wartete, andere sexuell zu missbrauchen. In einer Art kollektiven Selbstdisziplinierung wurde penibel darauf geachtet, dass kein «Mann» irgendetwas tat, was einer «Schwuchtel» oder einer «Frau» gleichkommen konnte: Mit gekreuzten Beinen im Klassenzimmer sitzen? Suspekt! Weinen oder Angst zeigen? Voll schwul! Zärtlichkeit zwischen Männern? Gefährlich! Keine grosse Klappe haben? Irgendwas läuft falsch!
Interessanterweise war es in meiner Schulzeit «erlaubt», Zärtlichkeit zwischen Männern öffentlich zu zeigen, wenn es sich dabei um eine Art Rollenspiel handelte, in welchem sich junge Männer als schwul inszenierten, um Homosexuelle zu verhöhnen. Zu dieser in Männlichkeit getränkten Parodie gehörte auch die bereits erwähnte Darstellung von Homosexuellen als übergriffige Menschen. Im Rollenspiel wurden andere Männer angegangen, mit sexuellen Sprüchen bombardiert und betatscht.
Ich erinnere mich auch noch daran, dass es während meiner Schulzeit vor allem ein Klassenkamerad sehr schwer hatte, weil er körperlich nicht fit war, wenige männliche Kollegen hatte, kein Fussball spielte und weil sowohl seine Stimmlage, wie auch seine Gestik als «nicht männlich genug» erschienen. Die psychische Verankerung der Männlichkeit im Unbewussten, die den sozialen Habitus von Männern kennzeichnet, nistet sich also auch in der Körperlichkeit ein. Körperhaltung, Stimmlage oder selbstbewusstes Auftreten sind wichtige Faktoren, durch die Männer lernen Männer zu sein. Die Dimension des Mobbings gegen meinen Klassenkameraden wurde mir erst bewusst, als er während zwei Wochen nicht zur Schule kam und ich erfuhr, dass er sich in seinem Zimmer einsperrte. Diese Gewalt, Ignoranz und Unsicherheit in Bezug auf die Homosexualität entstand, weil sie in patriarchalen und heteronormativen Gesellschaften tabuisiert und als Bedrohung der eigenen Männlichkeit dargestellt wird. Je wichtiger für eine Person die verinnerlichte Männlichkeit ist und je mehr sie sich mit dieser identifiziert, desto bedrohender erscheint ein nicht heterosexuelles Begehren.
Mann sein: Ein Perpetuum Mobile
Wie der Kapitalismus oder der Staat muss auch die Männlichkeit als gesellschaftliche Struktur verstanden werden, welche konstant von den Menschen in ihren sozialen Beziehungen reproduziert wird. Für Männer erzeugt diese Reproduktion der Männlichkeit ein Gefühl der Sicherheit, sind doch die eigene Identität und viele damit verbundene Vorteile an sie gekoppelt – beziehungsweise ist der männliche Erfahrungshorizont meist nicht von denselben bedrohlichen Szenarien geprägt, wie der einer Frau. Ich habe beispielsweise noch nie von einem Mann gehört, dass der nächtliche Nachhauseweg ihm ein mulmiges Gefühl bescheren würde oder dass er bei einer Essenslieferung so tut, als seien noch mehrere Leute zu Hause – aus Angst, es könnte zu einem sexuellen Übergriff kommen. Männer haben grundsätzlich die Möglichkeit zu entscheiden, ob sie sich mit diesem unterschiedlichen geschlechterbasierten Erfahrungshorizont auseinandersetzen wollen oder nicht. Für Frauen ist das hingegen keine Interessenssache, sondern vielmehr eine tagtäglich erlebte Realität, die an sehr viele unangenehme, gefährliche und demütigende Erfahrungen gekoppelt ist. Dies bedeutet freilich nicht, dass diese Erfahrung bei allen Frauen automatisch zu einer feministischen Gesellschaftsanalyse führt. Doch die Erfahrung der negativen Auswirkungen patriarchaler Strukturen sind für FLINTA viel unmittelbarer. Statt sich selbst mit diesem unterschiedlichen geschlechtsbasierten Erfahrungshorizont auseinanderzusetzen, fordern viele Männer von Frauen auch noch für ihre Weiterentwicklung zu sorgen und feministische Bildungsarbeit leisten.
Diese Erwartungshaltung gegenüber Frauen zeigt sich auch auf emotionaler Ebene. Meist wird Frauen die Last aufgebürdet, Care-Arbeit für die emotional verkrüppelten Männer zu leisten, weil sie durch die patriarchale Sozialisation auf emotionaler Ebene infantilisiert werden und mit ihren Emotionen überfordert sind. Unfähig mit den eigenen Emotionen umzugehen, fallen viele Männer in eine Überkompensation und haben das Gefühl, alle ihre negativen Emotionen bei Frauen loswerden zu müssen. Dass dies nicht per se emanzipatorisch ist und oft mit einem impliziten männlichen Dominanzverhalten einhergeht, wird dabei übersehen. Es ist ja angeblich gar nicht möglich, dominant zu sein, wenn man es hinkriegt, Verletzlichkeit und Angst zu zeigen. Dies bedeutet natürlich nicht, dass es etwas Negatives wäre, wenn Menschen sich, unabhängig von ihrem Geschlecht, gegenseitig emotional unterstützen. Doch Männer sollten sich fragen, wer für sie emotionale Care-Arbeit leistet.
Dominanz und Furchtlosigkeit
In linken und anarchistischen Kreisen ist ein Verhaltensmuster zu beobachten, das viele Männer in ihrer Jugend kennenlernen: Aggressivität, Risikofreude, Furchtlosigkeit und Gewaltbereitschaft sind gängige Formen der Darstellung der eigenen Männlichkeit und der Abgrenzung gegenüber dem, was gesellschaftlich mit stereotypen «weiblichen» Eigenschaften assoziiert wird: Fürsorge, Empathie oder Emotionalität. Im schlimmsten Fall äussert sich diese Abgrenzung in einem männlich geprägten Militanzfetisch und in der Abwertung von politischen Aktivitäten, die nicht dem männlichen Spektakel entsprechen. Natürlich ist Militanz nicht per se etwas Männliches, doch niemand verwundert sich, wenn an Riots mehrheitlich junge Männer zwischen 15 und 35 vorzufinden sind. Auch sind viele Männer äusserst motiviert, wenn sie Gewalt im Namen der «guten Sache» ausüben können: Einem Nazi aufs Maul hauen? Ja, da freuen sich jede Menge Männer. So können sie ihre Männlichkeit zur Schau stellen ohne sich mit feministischen und antipatriarchalen Positionen auseinandersetzen zu müssen. Seien wir ehrlich: Wer kennt nicht einen Mann, der auf der Barrikade ein «Held» ist und im Alltag ein überfordertes Mann-Baby?
Männlichkeit ist jedoch nicht an das «biologische Geschlecht» gebunden, sondern wird sozial konstruiert. So können auch Frauen männliche Verhaltensmuster reproduzieren. Ist ein politischer Zusammenhang durch männliches Dominanzverhalten geprägt, bleibt FLINTA wenig anderes übrig, als sich selbst dominant zu verhalten, um sich durchzusetzen. Eine solche Situation ist meiner Meinung nach nicht per se emanzipatorisch. Wenn jemand dominantes, aggressives, unemphatisches, narzisstisches und besserwisserisches – also männliches – Verhalten mimt, um sich durchzusetzen, werden dadurch zwangsläufig andere Personen an den Rand gedrängt. Statt individuelle Durchsetzungskraft zu fördern, sollten linke Zusammenhänge gemeinsam Verantwortung übernehmen und dafür sorgen, dass es die Nachahmung von typisch männlichen Verhalten nicht braucht.
Für ein Herr-schaftsfreies Leben
Wie hoffentlich im Verlauf dieses Textes klar wird, gehe ich davon aus, dass hegemoniale Männlichkeit in einer Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft hergestellt wird. Ein Prozess, der von verschiedenen Macht- und Unterdrückungsverhältnissen, wie auch durch unterschiedliche Hierarchien, durchdrungen ist. Eine kritische Auseinandersetzung mit Männlichkeit sollte deshalb immer auch eine gesamtgesellschaftliche Kritik anvisieren. Es genügt nicht, auf gendergerechte Sprache zu achten oder sich selbst als Antisexisten zu bezeichnen. Wenn wir aufmerksam sind und uns auch der Mikroebene des Erlebens zuwenden, werden wir internalisierte Verhaltensmuster erkennen, die fest zu unserer Persönlichkeit gehören. Viele Männer, die sich nicht mit den gängigen Männlichkeitsidealen identifizieren, tendieren bei genauerer Betrachtung doch dazu, diese Ideale zu reproduzieren. Man denke beispielsweise an die Anspruchshaltung vieler Männer in Paarbeziehungen, die Beziehungsarbeit mit einer ungenierten Selbstverständlichkeit meist ihren Partnerinnen überlassen, die ihnen dann die Emotionen geduldig und empathievoll aus der Nase ziehen müssen. In vielen Fällen fungiert die Partnerin als unbezahlte Ersatzpsychologin. Oder man denke an die Haushaltsarbeit und die Kinderbetreuung, die heute in den allermeisten Fällen immer noch ungleich verteilt ist.
Wie bereits erwähnt, können wir uns der Männlichkeit nicht entledigen, indem wir das gängige Männlichkeitsideal ablehnen. Männlichkeit ist nicht hauptsächlich durch den eigenen Willen bestimmt, sondern ein mit anderen Herrschaftsverhältnissen verwobenes und strukturell hervorgebrachtes Verhaltens- und Denkmuster, das sich tief verinnerlicht und im Unbewussten einnistet. Männlichkeit kann in dieser Hinsicht nicht individuell im Rahmen der Privatsphäre abgeschafft werden. Natürlich ist die individuelle Reflexion innerhalb sozialer Beziehungen trotzdem ein wichtiger Bestandteil, um kritisch über Männlichkeit nachzudenken und sein Handeln zu verändern. Man kann stereotype Männlichkeitsideale nicht einfach ignorieren, durch neue persönliche Lebenseinstellungen ersetzen und dann behaupten, man hätte die sozial vermittelten Rollen überwunden. Vielmehr müssen wir einen längerfristigen kollektiven, also gemischtgeschlechtlichen Prozess anstreben, der die Strukturen der Gesellschaft als Ganzes ins Visier nimmt, um die sozial konstruierten Geschlechterrollen zu überwinden. In diesem Sinne müssen sich Männer nicht nur in kritischen Männergruppen organisieren, um ihre Sozialisation und ihr Verhalten zu reflektieren, sondern auch darüber nachdenken, wie feministische, antikapitalistische und antiautoritäre Kämpfe von Männern unterstützt und getragen werden können, ohne sie zu vereinnahmen. Leider sind in Europa in anarchistischen und linken Kreisen die Versuche einer kritischen und profeministischen Auseinandersetzung mit dem Konstrukt der Männlichkeit, die etwa im Zuge der zweiten feministischen Welle insbesondere in Deutschland entstanden, seit den 1990er- Jahren in Vergessenheit geraten. Das ist ein Rückschritt. Es sind leider nicht viele, die beispielsweise die profeministischen autonomen Männerrundbriefe kennen, die von 1993 bis 2002 erschienen sind.
Die feministische Bewegung weist Männer seit geraumer Zeit darauf hin, dass kein Weg an der Kritik unserer Rolle im Patriarchat vorbeiführt. Wir sollten nicht darauf warten, bis uns unsere Genossinnen nach dem Bekanntwerden von sexualisierten Übergriffen oder sexistischem Verhalten in linken Räumen erneut dazu zwingen, uns kritisch mit unserer und anderen Männlichkeiten auseinanderzusetzen. Vielmehr sollte für linke Männer die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Männlichkeit fester Bestandteil ihres politischen Engagements sein. Wir können dadurch sehr viele Probleme und Leid verhindern und unseren Widerstand auf allen Ebenen stärken. Wir sollten aus unserer Passivität herauskommen und mit fundierter Männlichkeitskritik zum Kampf gegen das Patriarchat beitragen.
1 Mir ist bewusst, dass sich folgende Ausführungen nur auf die heterosexuelle Perspektive beziehen und nicht für alle Männer gültig sind.
2 Auch Männer sehen sich zunehmend einem Schönheitsideal ausgesetzt und werden auf ihr Äusseres reduziert, auch wenn es bei Frauen noch viel häufiger der Fall ist.