Vor zwei Jahren erschoss ein Polizist den Zürcher Nzoy. Seither fordern Angehörige und Aktivist:innen, dass er zur Rechenschaft gezogen wird. Doch der Kampf um Gerechtigkeit für Nzoy geht über den Einzelfall hinaus.
Es ist der 21. August 2021. Auf dem Perron des Bahnhofs Morges (VD) stehen vier Polizisten einem Mann gegenüber. Der Mann geht auf sie zu, ein Polizist zückt seine Waffe und drückt zweimal ab. Der Mann geht zu Boden, richtet sich wieder auf, der Polizist schiesst erneut. Der Mann bleibt liegen.
Ein Polizist legt dem Mann Handschellen an. Rund vier Minuten stehen die Beamten anschliessend tatenlos um ihn herum. Der Mann stirbt noch am Tatort. Roger «Nzoy» Wilhelm aus Zürich wurde 37 Jahre alt.
Lügen und Schweigen
Am nächsten Morgen schreibt die Polizei in einer Medienmitteilung, dass Nzoy die Polizist:innen mit einem Messer bedroht habe. Die Medien nehmen die Geschichte dankbar auf, schreiben von einem «Messer-Droher» und ziehen Parallelen zu einem islamistischen Mord ein Jahr zuvor. Was keine Erwähnung fand: Nzoy war schwarz. Und er war bereits der vierte schwarze Mann, der innerhalb von viereinhalb Jahren von der Waadtländer Polizei getötet wurde.
Nach und nach tauchen Handyvideos und Augenzeugenberichte auf, die die Version der Polizei in Zweifel ziehen. Nzoy hatte kein Messer in der Hand. Eine Tatsache, die der Polizist, der die tödlichen Schüsse abgab, gegenüber der Staatsanwalt bekräftigte: Er habe kein Messer gesehen. In ihrer ersten Medienmitteilung behauptete die Polizei zudem, dass die Beamten sofort Erste Hilfe leisteten – auf Videos sieht man sie untätig rumstehen. Als sie den Krankenwagen riefen, beschrieb einer von ihnen Nzoy als «homme de couleur», gab aber keine Informationen über seinen Gesundheitszustand durch.
Staatsanwalt Laurent Maye leitete gegen den Schützen ein Verfahren wegen vorsätzlicher Tötung ein. Sein Ermittlungseifer hält sich jedoch in Grenzen. Auch über zwei Jahre nach der Tat ist unklar, ob er überhaupt Anklage erheben wird. Der Mörder von Nzoy ist bis heute im Dienst und trägt eine Waffe.
Nirgendwo Aufklärung
Dass vom Rechtsstaat nicht viel zu erwarten ist, zeigte sich dieses Jahr im Juli in einem anderen Fall. In Lausanne standen sechs Polizisten vor Gericht, die sich für den Tod von Mike Ben Peter im Jahr 2018 verantworten mussten. Sie knieten minutenlang auf dem Nigerianer, sodass er kurz darauf verstarb. Angeklagt wurden sie von ebenjenem Laurent Maye.
Während des Prozesses schwiegen die Angeklagten eisern, konnten sich an kaum etwas erinnern und zeigten keinerlei Empathie für das Opfer und die anwesenden Angehörigen. Richter und Staatsanwalt ignorierten offensichtliche Widersprüche und verhinderten, dass der Anwalt der Angehörigen Beweise einbringen oder den Polizisten die entscheidenden Fragen stellen konnte. Der Gerichtssaal wurde von einem Polizisten mit dem rechtsextremen «Thin Blue Line»-Symbol auf der Uniform bewacht. Medien veröffentlichten ein Foto aus einem polizeiinternen Whatsapp-Chat, auf dem ein Polizist mit erhobenem Daumen vor einem «RIP Mike»-Tag posiert.
Diese Farce fand ihren Höhepunkt im Plädoyer von Staatsanwalt Maye: Er forderte einen Freispruch. Das Gericht folgte ihm.
Immerhin: Als zwei Wochen später der Mord an Nahel durch die Pariser Polizei in ganz Frankreich Riots auslöste, versammelten sich auch in Lausanne über hundert Jugendliche zu einem Krawall.
Angehörige kämpfen für Gerechtigkeit
Die Fälle von Mike und Nzoy haben viel gemeinsam. Nur wegen des unermüdlichen Engagements der Angehörigen bekamen die Fälle überhaupt eine gewisse Öffentlichkeit. Sie müssen selber Untersuchungen anstellen. Sie sammeln Beweise, bezahlen Anwälte und Gutachten. Der Staat bleibt nicht nur untätig, sondern legt ihnen Steine in den Weg, wo er nur kann. So mussten die Geschwister von Nzoy zuerst nachweisen, dass sie ein enges Verhältnis hatten, um überhaupt als Nebenkläger:innen zugelassen zu werden. Als sie schliesslich dem Verhör der Polizisten beiwohnen konnten, weigerte sich der Staatsanwalt, einen Dolmetscher zuzulassen.
Die Angehörigen stehen einem Staatsapparat gegenüber, der sie mit Schikanen und Demütigungen zu zermürben versucht. Doch sie geben nicht auf, sondern organisieren sich: «Wir vernetzen uns mit den Angehörigen anderer Opfer und mit Aktivist:innen. Das ist wichtig, weil es das Einzelfall-Narrativ durchbricht und die Systematik des staatlichen Vertuschens aufzeigt», erzählt Janet vom Bündnis «Justice4Nzoy». Im Bündnis organisieren sich Freund:innen von Nzoy und antirassistische Aktivist:innen, um die Angehörigen zu unterstützen und öffentliche Aufmerksamkeit auf den Fall zu lenken. Mehrmals organisierte das Bündnis Demonstrationen und Kundgebungen in Zürich, Morges und Lausanne. Öffentliche Aufmerksamkeit sei unerlässlich für Fälle von Polizeigewalt, erklärt Janet: «Staatsanwalt und Polizei wollen, dass man Nzoy vergisst, damit sie einfach weitermachen können. Doch das werden wir nicht zulassen!»
Im Zentrum steht die Kritik an Racial Profiling, also die polizeiliche Praxis, People of Color übermässig oft und verdachtsunabhängig zu kontrollieren. Dass die vier Polizist:innen in Morges einen Mann, der sich offensichtlich in einem psychisch aufgewühlten Zustand befand, für eine Gefahr hielten, lag an seiner Hautfarbe. Ebenso, dass sie ihm zuerst Handschellen anlegten, nachdem sie ihn niedergeschossen hatten und dass sie tatenlos rumstanden bis nach mehreren Minuten ein zufällig vorbeikommender Krankenpfleger darauf bestand, Erste Hilfe zu leisten. Sie interessierten sich nicht dafür, ihrem Opfer das Leben zu retten, sondern nur, dass es sich um einen «homme de couleur» handelte.
Wie bei Mike und Nahel war es auch bei Nzoy der Rassismus, der dafür verantwortlich war, dass ein Mensch wegen einer Bagatelle getötet wurde.
Spitze des Eisbergs
Doch die Kritik an Racial Profiling geht weiter. Der Fall Nzoy kann nicht auf eine fatale Schussabgabe an jenem Augustabend in Morges reduziert werden. «Nzoy hatte Angst vor der Polizei», erzählt Janet, die seit vielen Jahren mit Nzoy befreundet war, «Er wurde in seinem Leben so oft kontrolliert und schikaniert. Kein Wunder reagierte er panisch, als die Polizisten auf ihn zukamen.»
Nzoy war oft im Zürcher Kreis 4 unterwegs. Hier kennt man sein Gesicht und seine Geschichte. «Beim Plakatieren werden wir oft angesprochen. Leute fragen nach Plakaten und erzählen Geschichten von ihm. Sein Tod bewegt die Menschen im Quartier noch heute,» berichtet Diego, der ebenfalls in der Justice4Nzoy-Kampagne aktiv ist.
Im Kreis 4 kann man als Person of Color kaum durch die Strassen spazieren, ohne von der Polizei kontrolliert oder zumindest kritisch gemustert zu werden. Die Beamt:innen des lokalen Polizeireviers sind berüchtigt dafür, dass sie Verhaftete schikanieren, rassistisch beleidigen und gewalttätig vorgehen. «Hier brauchen wir niemandem zu erklären, was Racial Profiling ist. Und es fragt auch niemand, welchen Grund die Polizisten hatten, Nzoy zu erschiessen», sagt Diego.
Über den Einzelfall hinaus
Die Justice4Nzoy-Kampagne wurde zu einem wichtigen Bezugspunkt für die antirassistische Bewegung in Zürich. Beinahe an jeder Ecke hängen Konterfeis von Nzoy, sie zieren Pullis, T-Shirts und Taschen. Die Schriftart der Plakate wurde von einem PoC-Kollektiv entworfen. Am antifaschistischen Unite!-Festival traten mehrere Freund:innen von Nzoy auf, wie Janet erzählt: «Die Kampagne bringt uns, die Freund:innen, Familie und antirassistische Aktivist:innen immer wieder zusammen. Die Vernetzung die dabei entsteht, wirkt über die verschiedenen Anlässe hinaus. Das ist unglaublich wichtig.» Wichtig nicht nur für Angehörige und Betroffene von Polizeigewalt, wie Diego ergänzt, sondern auch für die antirassistische und antifaschistische Bewegung: «Der Tod von Nzoy zeigt uns, dass Rassismus kein abstrakter Begriff, sondern eine konkrete Realität ist. Darum muss Antirassismus mehr als ein Bekenntnis sein, es geht um praktische Solidarität. Diese Solidarität wollen wir ausweiten. Wir wissen, dass die Cops gewalttätig sind und Menschen töten. Doch sie sollen damit in Zukunft nicht mehr so einfach davonkommen.»