Die Solidaritätsgewerkschaft – vom Betriebskampf zur Revolution?

Der Sammelband «Spuren der Solidarität» erzählt von den Erfahrungen der Industrial Workers of the World (IWW) in der betrieblichen Organisierung. Er fügt sich in die laufende Strategie- und Organisationsdebatte ein und macht sich dabei für das Konzept der «Solidaritätsgewerkschaft» stark. Eine Buchbesprechung.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Communaut.

Es muss etwas mehr als zehn Jahre her sein, als ein Ur-Hesse von weihnachtsmännischer Anmutung, aber in Sandalen den Raum eines selbstorganisierten Zentrums im Frankfurter Gallus-Viertel betrat, um uns eine Organizing-Schulung der Wobblies zu verpassen. Uns, das war damals eine kleine Polit-Gruppe, die nach dem Zyklus der Krisenproteste ab 2008 ihren Weg von der abstrakt-antikapitalistischen Kampagnenpolitik zum alltäglichen Klassenkampf gefunden hatte. In der Schulung befassten wir uns mit Mapping, probten in einem Rollenspiel den «Gang zum Chef» und diskutierten anschliessend.

Schon damals trieb uns eine – keineswegs neue – Frage um, die sich auch nach der Lektüre des Bandes «Spuren der Solidarität. Betriebliche Organisierung am Beispiel der Industrial Workers of the World» weiterhin stellt: Wie lassen sich Kämpfe um konkrete Verbesserungen im (Arbeits-)Alltag mit dem Kampf um die sozialrevolutionäre Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse verbinden? Indem der Band diese Frage aufwirft, fügt er sich gut in die Strategie- und Organisationsdebatte ein, die seit einiger Zeit auf Communaut geführt wird. Ihren Ausgangspunkt hatte sie in der Parteifrage, womit sie sich vor allem um die politische Seite verändernder Praxis drehte – «Spuren der Solidarität» nährt sich dem Ganzen demgegenüber primär in syndikalistischer Tradition von der ökonomischen, genauer: betrieblichen Seite aus.

Das Konzept der Solidaritätsgewerkschaft

Das Buch schliesst an «Spuren der Arbeit – Geschichten von Jobs und Widerstand» an, das 2021 erschienenen ist und soll dieses um strategische und analytische Aspekte ergänzen. Im Zentrum dieser Aspekte steht das Konzept der Solidaritätsgewerkschaft. Es wird als Resultat einer «Suchbewegung» eingeführt, in der sich historische und jüngere Erfahrungen niedergeschlagen haben. Der Band ist allerdings auch Resultat einer Sammelbewegung. Die meisten der recht zahlreichen, teils sehr kurzen Beiträge sind bereits anderorts erschienen, insbesondere auf dem Blog  organizing.work. Sie sollen die praktischen Erfahrungen vermitteln, die dem Konzept der Solidaritätsgewerkschaft zugrunde liegen. Berichtet wird von Kämpfen in verschiedenen Bereichen vor allem der Dienstleistungsarbeit (von der Post über die Gastro bis zum Strip Club) in den USA, Kanada, Deutschland und der Schweiz.

Weiter beinhaltet das Buch auch stärker analytisch und konzeptionell ausgerichtete Beiträge, in denen die Solidaritätsgewerkschaft von anderen Gewerkschaftsmodellen abgegrenzt, im Kontext der kapitalistischen Gesellschaft verortet und in ihren verschiedenen Elementen (Betriebskommitees, Basisdemokratie etc.) diskutiert wird. Die logische Struktur der Anordnung der Beiträge erschliesst sich dabei nicht immer. Zwar werden die vier Abschnitte, in die der Band untergliedert ist jeweils von kurzen rahmenden Bemerkungen und Leitfragen der Herausgeber:innen eingeleitet, thematisch liegen die folgenden Beiträge jedoch nicht immer auf der hier angelegten Linie. Das ist aber insofern nicht schlimm, da der Band ohnehin eher zum stöbern und reinblättern einlädt als zu strukturiertem Lesen von der ersten zur letzten Seite.

Gemeinsam kämpfen und lernen

Ausgangspunkt des Konzepts der Solidaritätsgewerkschaft sind die alltäglichen Sozialbeziehungen am Arbeitsplatz und die darin versteckte Solidarität. Diese soll die Basis für den Aufbau von Macht am Arbeitsplatz durch Organisierung in Betriebskommitees und direkte Aktionen bilden. In einem kollektiven Prozess soll ein Komitee konkrete Forderungen formulieren und taktisch kluge Aktionsformen entwickeln. Dahinter steht ein Verständnis von gewerkschaftlichem Handeln, in dem es nicht darum geht, von der Kapitalseite als Vertragspartner anerkannt zu werden – von dieser rechtlichen Ebene, so die Empfehlung, sollte man sich eher fernhalten. Gewerkschaftliches Handeln sei vielmehr, wenn sich zwei oder mehr Kolleg:innen zusammenschliessen, um ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern und damit auch die Machtverhältnisse im Betrieb zu verändern. Hierzu brauche es keine Verträge mit langwierigen Verfahrenswegen, Streikverboten und desorganisierenden Nachwirkungen. Veränderungen werden schlicht unmittelbar eingefordert – etwa durch den sogenannten «Gang zum Chef».

Im Prozess des gemeinsamen Entscheidens und Kämpfens, so die Erfahrung und Hoffnung, finden «fast beiläufig […] Lern- und Entwicklungsprozesse der beteiligten Arbeiter:innen» statt. Diese sollen langfristig die Arbeiter:innenklasse dazu befähigen, «eine Welt nach menschlichen Bedürfnissen verwalten zu können, statt nach der Logik des Profits der Unternehmen». Dieses Konzept mache die Einzigartigkeit der IWW aus. Inzwischen ist es auch in einem zweiteiligen Organizing-Training formalisiert, das IWW-Mitglieder absolvieren können (dass es uns damals möglich war, einen Teil zu absolvieren, war eine Ausnahme). Die Entwicklungsgeschichte dieses Trainings ist nicht nur Thema eines eigenen Beitrags, sondern immer wieder ein Bezugspunkt, da es als zentrales Resultat der Lernprozesse der letzten Jahrzehnte verstanden wird. Vermittelt werden Erfahrungen und Techniken für eine erfolgreiche Aktionskampagne von der Ansprache der Kolleg:innen in eins-zu-eins-Gesprächen bis zu Möglichkeiten der Aufrechterhaltung eines Betriebskomitees.

Einseitiger Blickwinkel

All das wird in verschiedenen Beiträgen mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen – allerdings nicht ohne Redundanzen – an konkreten Beispielen ausbuchstabiert. Das macht den Band insbesondere für diejenigen interessant, die in der Arbeitskampfpraxis aktiv sind und sich mit ganz konkreten Problemen des Organizing konfrontiert sehen und Orientierung suchen. Gleichzeitig lernt man einiges über die  Geschichte der IWW in den genannten Ländern (insbesondere seit den 1990er Jahren), über verschiedene Organizing-Modelle und Techniken sowie über die Grundidee einer revolutionären Gewerkschaft in Abgrenzung zu vertragsschliessenden, sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaften. Daran ist vieles sympathisch und klingt gut: Die Tradition des proletarischen Kosmopolitismus wird aufgerufen, die Rahmung des Ganzen als Suchbewegung zielt auf Offenheit statt Dogmatismus und es wird entsprechend offen eingestanden, dass man in den meisten Fällen scheitert. Und dieses Scheitern führt nicht zu Resignation, vielmehr wird es reflektiert, um daraus zu lernen.

Trotz aller Offenheit wird man jedoch am Ende den Eindruck nicht ganz los, dass der Ansatz etwas provinziell bleibt. Das liegt zum einen daran, dass es einen Hang zur Vereinsmeierei gibt. Im Fokus steht die Einzigartigkeit der IWW und ihre Geschichte. Dass es auch andere Organisationen in der Tradition des Syndikalismus und auch faktische Prozesse der Organisierung in Betriebskommitees – etwa in Portugal nach dem Staatsstreich im April 1974 – gibt, aus deren Erfahrungen man lernen könnte, findet kaum Berücksichtigung. Und auch Bezüge zu aktuellen, thematisch naheliegenden Debatten um Organisation und Strategie in anderen Teilen der radikalen Linken werden kaum hergestellt. So wäre es bspw. interessant gewesen, wenn auf die Kritik am Syndikalismus eingegangen worden wäre, die von den Angry Workers formuliert wurde und die auf die Gefahr hinweisen, dass sich die unmittelbaren Forderungen bestimmter Gruppen von Arbeiter:innen auch gegen die Einheit der Klasse richten und somit «einer konsequenten Klassenlinie widersprechen» können.

Fetischisierung der Organizing-Methoden?

Der Eindruck des Provinziellen wird auch dadurch erzeugt, dass das breite Themenspektrum, das in der  lesenswerten Einleitung «Klassensolidarität als Ausgangspunkt und Ziel gewerkschaftlicher Praxis» aufgemacht wird, in den folgenden Beiträgen stark auf die Diskussion von Methoden der betrieblichen Organisierung zur Umsetzung konkreter Forderungen reduziert wird. Gilt zunächst noch die allgemeine «Orientierungslosigkeit» der Linken in der gegenwärtigen Phase des geschichtlichen Umbruchs als Aufhänger für die Diskussion von Analysen und Strategien, der es auch sinnvoll scheinen lässt, auf Bewegungen wie Fridays for Future oder Black Lives Matter zu schauen, fokussieren die meisten Beiträge des Bandes auf das betriebliche Organizing – und die Organizing-Methoden werden entgegen des Anspruchs auf Offenheit teils schon fast fetischisiert, etwa wenn es es heisst: «Wir haben eine Methodik. Die müssen wir anwenden.» Dass es für die Revolutionierung der Gesellschaft mehr braucht als bloss die Organisierung im Betrieb, droht da aus dem Blick zu geraten.

Nur der Beitrag zur solidarischen Stadtteilarbeit und eine kritische Diskussion der internationalen Frauenstreiks anhand des Manifests Feminismus für die 99% deuten an, dass es ein Jenseits des Betrieb gibt. Auch hier aber bilden die im betrieblichen Kontext entwickelten Methoden die Leitsterne der Diskussion. Es wird etwa zugestanden, dass der Kampf um die Reproduktionsarbeit vor allem auf dem Terrain des Staates zu führen ist und die Durchsetzung konkreter Forderungen und die Ausübung von Macht im Bereich der öffentlichen Politik «zugegebenermassen weniger einfach als die Durchsetzung von Forderungen am Arbeitsplatz» sei. Was das für Organisationskonzepte und -Methoden bedeutet und wie sich die Kämpfe am Arbeitsplatz mit den Kämpfen jenseits des eigenen Betriebs verbinden lassen, bleibt aber offen. Zwar finden sich im letzten Teil Inspirationsquellen zu betriebsbezogenen Kämpfen, die sich in grössere Fragen der ökologischen Transformation (Interview mit dem Fabrikkollektiv Ex-GKN) und des Antimilitarismus (Interview mit dem autonomen Haferarbeiterkollektiv CALP) einmischen. Diese bleiben aber einigermassen unvermittelt zu den IWW- Methoden.

Eine offene Debatte

Wie aber ist mit dem eingangs aufgeworfenen Problem umzugehen, dass diese Methoden durchaus in jenen «Kleinkrieg» führen können und praktisch auch immer wieder führen, in dem eine revolutionäre Orientierung untergeht und für den andere Gewerkschaften gescholten werden? Konzeptionell klingt es durchaus überzeugend, das Revolutionäre vor allem in dem kollektiven Lernprozess zu verorten, der in der Selbstorganisation und dem Ausbau der Arbeiter:innenkontrolle am Arbeitsplatz verortet wird. Dennoch bleibt es ein qualitativer Sprung von konkreten Forderungen an die Arbeitergeber:innen zu der Forderung, dass es keine Arbeitgeber:innen mehr geben solle – und selbst das ist noch keine umfassende soziale Revolution. Wie dieser Sprung aufbauend auf den Organizing-Methoden nicht nur konzeptionell zu denken, sondern praktisch zu vollziehen ist, bleibt eine Frage, die weiter diskutiert werden muss.


Ada Amhang, Levke Asyr, Montel Nickelberry, Mark Richter (Hg.): Spuren der Solidarität. Betriebliche Organisierung am Beispiel der Industrial Workers of the World, Berlin 2024.

Weitere Materialien und Diskussionsbeiträge zu «Spuren der Solidarität» finden sich auf dem Blog zum Buch: www.spuren.cc