Am Samstag, 2. Juni wurde in Kalabrien (Süditalien) der Landarbeiter und Gewerkschafter Soumaila Sacko erschossen. Über die Hintergründe dieses Mordes sprachen wir mit Maurizio, der im sozialen Zentrum Ex OPG occupato Je so› pazzo in Neapel aktiv ist.
In der Schweiz hat man vom Mord an Soumaila Sacko nur am Rand etwas mitbekommen. Wie hast du davon erfahren und was ist genau passiert?
Ich habe am Sonntagmorgen, 3. Juni davon erfahren. Die Basisgewerkschaft Unione Sindacale di Base (USB) veröffentlichte eine Mitteilung, und bei mir und meinen Genoss*innen liefen sofort die Drähte heiss. Wenig später berichteten auch die italienischen Medien darüber. Soumaila Sacko, ein 29-jähriger Landarbeiter malischer Herkunft und Vater einer fünfjährigen Tochter, wurde erschossen. Soumaila und zwei Freunde waren auf dem Gelände der stillgelegten Ziegelei «La Tranquilla» nördlich von Gioia Tauro und Rosarno auf der Suche nach Metallteilen, um damit ihre Hütten auszubessern. Jemand feuerte aus etwa sechzig Metern Distanz vier Schüsse auf die drei Männer ab. Eines der Geschosse traf Soumaila in den Hinterkopf und auch seine Begleiter wurden verletzt. Die Ambulanz kam, aber im Spital konnten sie nichts mehr für Soumaila machen, er war tot. Die Polizei geht davon aus, dass der Schütze bereits auf dem Gelände war, als die drei Arbeiter ankamen. Einige Medien und rechte Politiker*innen versuchen die Schüsse als «Verteidigungsmassnahme» gegen Diebe oder wegen Hausfriedensbruch darzustellen. Da das Gelände aber vor zehn Jahren von den Behörden beschlagnahmt wurde, gibt es keinen Anlass, sich über den Abtransport von Metallabfällen zu beklagen.
Wie reagierten die Arbeiter*innen auf den Mord?
Die Braccianti, wie die migrantischen Landarbeiter*innen genannt werden, reagierten mit Streiks auf den Feldern in Kalabrien und im Norden Apuliens, es gab Demos in Neapel, Potenza, Rom und weiteren italienischen Städten. Solche Streiks führen natürlich zu einer gewissen Unruhe, weil sie in einem regional ausschlaggebenden Wirtschaftszweig stattfinden. Gemüse, das nicht geerntet und verschifft wird, wird je nach Dauer des Streiks unverkäuflich. Ein grosser Teil der landwirtschaftlichen Produkte aus der Region landen übrigens auch in der Schweiz und anderen europäischen Ländern in den Supermärkten. Die Unione Sindacale di Base gibt sich kämpferisch, einer ihrer Sprecher liess verlauten, dass sie sich gegen die rassistische Politik der neuen Regierung zur Wehr setzen werden. Angestellte, Arbeiter*innen, Schüler*innen, Rentner*innen stecken alle im selben Boot. Die Verschlechterungen der letzten Jahre haben nicht die Immigrant*innen aus Afrika mitgebracht, sondern sind Resultat der Politik der vorangegangenen Regierungen. Eine erste soziale Mobilisierung in Opposition zur neuen rassistischen Regierung findet am 16. Juni in Rom statt.
Durch den Aufstand der migrantischen Orangenpflücker in Rosarno im Jahr 2011 wurde auch in der Schweizer Öffentlichkeit über die Zustände auf den Plantagen berichtet. Wie ist die Situation der Landarbeiter*innen in Kalabrien heute?
In der Umgebung von Gioia Tauro, südlich von Rosarno, gibt es riesige Plantagen. Es werden Früchte und Gemüse, insbesondere Tomaten, Orangen und Mandarinen, angebaut. In Gioia Tauro wurde vor kurzem ein neuer Hafen gebaut. Geht es nach dem Willen der Investor*innen, soll die Region in naher Zukunft zu einem wichtigen Umschlagplatz für landwirtschaftlicher Produkten werden. Gleichzeitig arbeiten die Braccianti für zwanzig bis dreissig Euro pro Tag, manchmal dauern die Arbeitstage zwölf Stunden oder mehr. Die Arbeitsbedingungen sind katastrophal. Der einzige Ort, wo sich die Landarbeiter*innen ausruhen können, sind die Zelte und Baracken, die sie selbst bauen und instand halten müssen. Das bekannteste Barackendorf liegt in San Ferdinando, wo während des Sommerhalbjahres über viertausend Menschen wohnen, die auf den umliegenden Plantagen als Landarbeiter*innen und Pflücker*innen tätig sind. Viele der Braccianti verfügen zwar über einen regulären Aufenthaltsstatus, sind aber dennoch auf die prekären Jobs auf den Feldern angewiesen. Auch Soumaila und seine Freunde hatten gültige Papiere. Ein grosser Teil der Arbeiter*innen hat aber keine gültigen Aufenthaltsbewilligungen und sind darum besonders stark ausbeutbar.
In Rosarno, das wenige Kilometer von San Ferdinando entfernt liegt, haben die Braccianti im Jahr 2011 selbstorganisiert revoltiert, weil auf sie geschossen wurde und um gegen die katastrophalen Lebensbedingungen und die tiefen Löhne zu protestieren. Die Kampfbereitschaft der migrantischen Arbeiter*innen ist auch heute recht hoch. Soumaila hat sich in den Kämpfen der Landarbeiter*innen immer wieder exponiert, er war aktives Mitglied der Unione Sindacale di Base (USB).
Welche Rolle spielt die Unione Sindacale di Base auf den kalabrischen Plantagen?
Die USB ist eine Basisgewerkschaft. Sie konnte vor allem im öffentlichen Dienst eine engagierte Basis aufbauen, also bei Lehrer*innen und Staatsangestellten. In den letzten Jahren organisieren sich immer mehr migrantische Landarbeiter*innen im Süden des Landes bei der USB. Viele der Aktivist*innen sind Arbeiter*innen, die bereits lange Jahre auf den Plantagen arbeiten und nun mit der USB kämpferische Kampagnen führen und in regelmässigen Abständen Mobilisierungen organisieren. In Apulien und vor allem in Kalabrien hat die USB eine beträchtliche Schlagkraft. Ihr Erfolg ist mit demjenigen des Sindacato Intercategoriale Comitato di Base (SI Cobas) vergleichbar, in dem sich mehrheitlich migrantische Logistik- und Transportarbeiter*innen in Norditalien organisieren. Natürlich befinden sich solche gewerkschaftlichen Zusammenhänge in widersprüchlichen Situationen, sobald sie beginnen als Verhandlungspartner zu fungieren, doch ihre Basisarbeit mit den migrantischen Arbeiter*innen ist heute zentral. Die USB ist eine Gewerkschaft, die eng mit anderen sozialen Bewegungen zusammenarbeitet und kämpferisch auftritt. Mit ihren Kämpfen greifen die organisierten Arbeiter*innen die materielle Basis derjenigen Strukturen an, die von den prekären Zuständen des Früchte- und Gemüseanbaus profitieren. Kämpfe für bessere Löhne und bessere Wohnbedingungen schmälern den Profit der Plantageninhaber. Somit werden die in der USB organisierten Arbeiter*innen zu direkten Gegenspielern der oft mafiösen Unternehmen.
Du denkst also der Mord hat mit der Mafia zu tun?
Mafiöse Strukturen haben in der Organisation und Verwaltung der Arbeitskraft auf den Plantagen ihre Hände im Spiel. Sie haben ökonomische Interessen an diesem Geschäft. Zusätzlich sind sie auch in vielen Erstaufnahme- und Asylzentren in der Region beteiligt, wofür sie Geld der Regierung erhalten. Die organisierte Kriminalität versucht unter Anwendung von Gewalt – sehr oft eben auch Waffengewalt – Gewerkschaftsaktivist*innen, die für die Verbesserung der Arbeits- und Lebenssituation kämpfen, einzuschüchtern. Diesmal hat dies zum Tod eines Aktivisten geführt. Die Schüsse wurden aus grosser Distanz abgegeben, der Schütze musste einige Erfahrung im Umgang mit Waffen haben. Hinzu kommt, dass auf dem Gelände, auf dem der Mord verübt wurde, die stillgelegte Ziegelei «La Tranquilla» steht. Auf diesem Gelände sind seit Jahren giftige Industrieabfälle deponiert. Die Entsorgung von Giftmüll ist neben dem Handel mit Drogen die wichtigste Einnahmequelle der ’Ndrangheta, der kalabrischen Mafia. Man muss davon ausgehen, dass in der Sache mafiöse Interessen und Akteur*innen mitspielen.
In der italienischen Öffentlichkeit wird der wahrscheinliche Zusammenhang mit der organisierten Kriminalität als Begründung herangezogen, wieso dieser Mord nichts mit Rassismus zu tun haben soll.
Das eine schliesst das andere nicht aus. Der Mord geschah nicht aus dem Nichts heraus, sondern ist ganz klar das Resultat der rassistischen Hetze. Zwei Tage vor dem Mord hat Staatspräsident Matarella nach langen Ränkespielen die neue Regierung vereidigt. Salvini von der Lega fungiert in dieser Regierung als Innenminister und seine erste öffentliche Aussage war, dass «für die illegalen Immigranten das Vergnügen» nun vorüber sei. Er kündigte an, mit harter Hand gegen Migrant*innen ohne regulären Aufenthaltsstatus vorzugehen und «weniger Geld für die Migranten zu verschwenden». Um zu bekräftigen, dass er das «Migrationsproblem» lösen werde, fuhr er als erste Amtshandlung nach Pozzallo in Sizilien, wo ein beschlagnahmtes Schiff einer Seenotrettungs-Organisation lag.
In den sozialen Medien wurde die Nachricht vom Mord an Soumaila mit Aussagen wie «der Krieg gegen die Armen ist eröffnet» betitelt. War der Mord also eine direkte Folge der Vereidigung der neuen Regierung von Lega und Movimento 5 Stelle?
In der Migrationspolitik wird die Schraube seit Jahren angezogen, entsprechend lobte Salvini die Arbeit seines Vorgängers Minniti (Partito Democratico). Mit der Lega in der Regierung ist der Kurs klar: weitere Verschärfungen. Es ist noch nicht eindeutig geklärt, wer auf die Landarbeiter geschossen und Soumaila umgebracht hat – aber die politische und moralische Verantwortung für diesen Anschlag tragen diejenigen Kräfte, welche die Hetze gegen migrantische Menschen vorantreiben. Gleichzeitig ist die Ankündigung, alle Migrant*innen ohne gültigen Aufenthaltsbewilligungen abzuschieben, auch ein Vorhaben, das nicht allen Fraktionen des Kapitals und der informellen Ökonomie Freude bereitet. Gerade auf den Feldern im Süden des Landes und in der Logistikbranche im Norden profitieren die Unternehmer*innen enorm von der schlecht entlohnten Arbeit illegalisierter Menschen. Die ökonomischen Interessen vieler Branchen und mafiöser Strukturen stehen den Absichten der neuen Regierung diametral entgegen. Aber in einem Punkt treffen sich die rechten Politiker*innen, die Mafia und die Unternehmer*innen halt immer wieder: in der rassistischen Hetze. Sie ist der Boden, auf dem die Gewalt gegen Migrant*innen gedeiht. Der Mord an Soumaila war nicht der erste und wird wohl auch nicht der letzte gewesen sein. Es wurde in den letzten Jahren immer wieder auf migrantische Menschen geschossen. Im Februar dieses Jahres schoss ein ehemaliger Lega-Kandidat in Macerata auf sechs Menschen mit dunkler Hautfarbe. Und wenig später, Anfang März 2018, schoss ein Mann in Florenz auf migrantische Strassenhändler, ein junger Mann wurde getötet.
Du sagst, dass es mit der Lega/5-Stelle-Regierung zu weiteren Verschärfungen in der italienischen Migrationspolitik kommen wird. Wie kann der Widerstand dagegen erfolgreich sein?
Ich gehe einig mit der Einschätzung der Basisgewerkschaften, dass die Organisierungsbestrebungen der migrantischen Arbeiter*innen sehr wichtig ist. Migrant*innen stellen das letzte Glied der Ausbeutungskette dar, sie sind Teil des Subproletariats. Die Organisierung dieses Subproletariats ist ein zentraler Schritt in der politischen Zusammensetzung der Arbeiter*innenklasse. Wenn Migrant*innen nicht Bestandteil einer grösseren Bewegung werden, werden sie von den Machtstrukturen gegen die Arbeiter*innenklasse organisiert. In der Logistik und Landwirtschaft sind in Italien vor allem Migrant*innen beschäftigt und ihr Organisationsgrad ist beachtlich. Da sehe ich grosses Potential für die Abwehrkämpfe, die auf uns zukommen. Aus der Organisierungsdynamik der migrantischen Arbeiter*innen in der Logistik und Landwirtschaft gibt es auch viel zu lernen für Kämpfe anderer Teile der Klasse und in anderen ökonomischen Sektoren.
Am 7. Juni wurde bekannt, dass die Polizei einen Verdächtigen verhaftet hat. Der Mann ist mit dem ehemaligen Besitzer des beschlagnahmten Geländes der ehemaligen Ziegelei «La Tranquilla» verwandt.