Permanente Unsicherheit, doppelte Ausbeutung und Gaming als schlechte Kompensation für tiefe Löhne. Immer mehr Unternehmen setzen auf Apps und Algorithmen, die Digitalisierung verändert Arbeitsverhältnisse grundlegend. Wir haben mit einem Fahrradkurier darüber gesprochen, wie die Arbeit aussieht, wenn die App der Chef ist.
Von Julian Freitag und Lotta D. Classe. 140 Millionen Pakete befördert die Schweizerische Post jedes Jahr, Tendenz steigend. Vom Klick im Onlineshop bis zur Lieferung an die Haustüre soll möglichst wenig Zeit verstreichen. So will es die «Kundenorientierung». Nach dem Klick setzt sich die Logistik – das physische Internet – in Bewegung: Arbeiter*innen verpacken die Ware im Logistikzentrum und übergeben sie der Post. Die transportiert das Paket in eines ihrer Distributionszentren. Immer mehr Pakete sollen noch am selben Tag zugestellt werden und bringen die bisherige Logistikformen an ihre Grenzen. Daher setzt die Branche auf Fahrradkurier*innen, die über eine App koordiniert die Waren zustellen.
Mit der Digitalisierung der Arbeitswelt nehmen prekäre Arbeitsformen zu. Insbesondere in gewerkschaftlich schlecht organisierten Sektoren mit vielen migrantischen und jungen Arbeiter*innen. Weil Unternehmen dort nicht mit starker Gegenwehr rechnen, dienen diese Sektoren als Experimentierfelder für prekarisierte, algorithmengesteuerte Arbeit. Europaweit kam es zu Protesten von Kurierfahrer*innen. Wir wollten wissen: Was sind das für neue Arbeitsformen, die sich hier herausbilden? Was bedeutet es, wenn die App dein Boss wird?
Wenn die App dein Boss ist
Claudio Marini (Name der Redaktion bekannt) ist Kurier bei Notime – dem grössten Player im Velo-Kurier-Business in der Schweiz. Im leuchtend-grünen Leibchen, das die Fahrer*innen tragen müssen, erklärt er: «Wir liefern zum Beispiel Bestellungen von eat.ch oder same-day-Zustellungen von zalando oder brack.ch aus. Mit Lieferwagen lässt sich das nicht machen. Die sind zu gross, zu schwerfällig und zu langsam.» Als Tech-Startup und Logistikunternehmen will Notime das Problem der «letzten Meile» lösen, das für Logistikunternehmen durch den expandierenden Onlinehandel immer wichtiger wird. In diesem wachsenden Markt will auch die Schweizerische Post mitmischen. 2018 kaufte sie daher Notime auf. Aber die Tocherfirma des gelben Riesen sieht sich vor allem als Tech-Unternehmen. Im Fokus steht vielmehr die Entwicklung einer Algorithmus-gesteuerten, digitalen Plattform.
Dreh- und Angelpunkt für die Fahrer*innen ist die App, die sie auf ihrem Smartphone installiert haben. Konzipiert, designt und programmiert wurde die App von Notime. Mittels GPS-Ortungsfunktion kennt das Unternehmen den Standort aller Fahrer*innen in Echtzeit, kann Bewegungsprofile sammeln und die Fahrer*innen überwachen. Notime-Fahrer Claudio Marini erklärt: «Die App zeigt sogenannte ‹Stops› an, an denen Pakete oder Essen geladen und abgeliefert werden muss. Auf der Karte ist der eigene Standort und jener der Stops ersichtlich. Über GPS werden die Fahrer*innen permanent getrackt und ihr Standort ist sowohl für Disponent*innen als auch teilweise für Konsument*innen sichtbar. Immer wieder poppen während der Fahrten Fragen auf wie ‹Du bist nicht in der Nähe des Stops/Dies ist nicht dein nächster Stop. Bist du sicher, dass du angekommen bist?›»
Der Algorithmus hinter der App, aber auch die Disponent*innen, können also die Bewegungen der Fahrer*innen überwachen und sie ermahnen, nicht von der vorgesehenen Route abzuweichen. Allerdings kann sich das Unternehmen auch damit begnügen, dass die Fahrer*innen mit ihrer Überwachung rechnen müssen, sich also beobachtet fühlen. «Wenn man mal einem Disponenten über die Schultern schaut, realisiert man: Es ist für sie unmöglich, alle Fahrer*innen zu überwachen. Dafür bräuchten sie viel mehr Leute», erklärt Claudio.
Die Fahrer*innen wissen sich innerhalb eines panoptischen Systems. Dessen Architektur sorgt dafür, dass sie ihre Überwacher*innen nicht sehen, aber potentiell permanent dem Blick des Unternehmens ausgesetzt sind. Im Vergleich zu einem panoptisch gebauten Gefängnis, zu einem spiegelverglasten Bereich für Ladendetektiv*innen beim Grossverteiler oder eines Überwachungsposten in einer Fabrik, ist die Überwachung durch die App viel diffuser. Es bleibt unklar, wer was überwacht, welche Daten erhoben werden und was überhaupt erlaubt oder verboten ist.
Die App steht zugleich in der hundertjährigen Tradition des Taylorismus. Wie zu Taylors Zeiten erhoffen sich Unternehmer*innen eine höhere Produktivität, indem sie Arbeit in Teilschritte unterteilen und dann genaue Arbeitsabläufe und -geschwindigkeiten festlegen und überprüfen. Der ökonomische Nutzen ist dabei nur eine Seite der Medaille. Die andere ist machtpolitischer Natur: Die Standardisierung von Arbeitsschritten macht Arbeitskräfte leicht austauschbar und verhindert, dass sie Fachwissen herausbilden, das sie als Machtmittel nutzen könnten. Alles Wissen soll das Monopol des Managements sein.
Genau nach dieser Logik standardisiert die Notime-App die Arbeitsschritte der Fahrer*innen: «Erreicht eine Fahrerin einen Stop, erscheinen mehrere Checkboxen mit Aufgaben wie Laden, Abliefern, Betrag einkassieren, Unterschrift verlangen», berichtet Claudio Marini «Wenn alle Checkboxen ausgefüllt sind oder ein Problem besteht, etwa wenn ein Kunde nicht da ist oder die Adresse falsch war, kann der Stop abgeschlossen werden und er verschwindet von der App.» Damit werden einerseits Fehler vermieden und andererseits wird die Arbeit einfacher, denn die Arbeitskraft muss weniger wissen, weniger mitdenken. Das «dequalifiziert» die Arbeitskraft und macht sie billiger.
Ein auffälliges Designmerkmal der App hat das Unternehmen von den Barcodescannern bei Amazon abgekupfert: Einen prominent sichtbaren farbigen Balken. Notime-Fahrer Marini: «Der Balken zeigt wieviel Zeit der Fahrerin noch bleibt, um beim nächsten Stop anzukommen. Der Balken ist zuerst grün, bei weniger als 2 Minuten wird er orange und bei Verspätung rot. Allerdings stimmen die Zeiten oft gar nicht mit den Zeiten von Konsument*innen überein. Die App schätzt die Zeit, welche die Fahrerin braucht, selbstständig. Oft wissen neue Fahrer*innen nicht, dass der Balken keine Relevanz hat und nur für sie sichtbar ist. Dementsprechend verursacht er viel Stress.» Genau auf dieses Stressgefühl zielt das Unternehmen ab. Zudem lernt der Algorithmus dazu. Letztlich soll er die Lieferzeit immer genauer voraussagen können.
Permanente Unsicherheit und Null-Stunden-Verträge
Notime wirbt mit dem Versprechen der vollen Flexibilität. «Das ist natürlich nur die halbe Wahrheit», verrät uns Marini. «Die Länge der Schichten sind vorgegeben und wenn keine Schichten mehr frei sind, kann man auch nicht arbeiten. In der Regel werden alle Fahrer*innen im Stundenlohn angestellt und kriegen einen Null-Stunden-Vertrag. Immer Mitte Monat werden die Schichten für den nächsten Monat hochgeladen. Man kann die gewünschten Schichten dann ‹buchen›, first come, first served.» Ein Blick auf den sogenannten «Shiftpicker» zeigt zudem: Die meisten Schichten sind zwischen drei und vier Stunden lang und auf den Abend gelegt. Marini bestätigt: «Es ist kaum möglich, dauerhaft auf ein Arbeitspensums von über 60 Prozent zu kommen. Ausserdem bleibt die permanente Unsicherheit, ob man die gewohnten Schichten nächsten Monat wieder buchen kann.» Wenn Politiker*innen verkünden, dass Start-up-Unternehmen wie Notime Arbeitsplätze schaffen würden, unterschlagen sie, dass dies in der Regel Jobs sind, von denen man nicht leben kann.
Das Arbeitsmodell verursacht auch dem Unternehmen Mehrarbeit und Probleme. «Ihr grösstes Problem ist die hohe Fluktuation und die Unzuverlässigkeit der Fahrer*innen. Wenn ich einen Monat in die Ferien will oder gar einen neuen Job finde, sage ich der Firma nicht Bescheid, ich habe keine Fristen einzuhalten. So kommt es vor allem im Sommer und Winter regelmässig vor, dass Notime kurzfristig merkt, dass sie zu wenige Fahrer*innen haben. Ebenfalls sind viele auf dem Absprung, weil man permanent unsicher ist, wieviel Lohn man im nächsten Monate überhaupt erhält. Für sehr viele ist die Arbeit bei Notime ein Neben- oder Übergangsjob.»
Das Anreizsystem bei Notime ist die Erwerbssicherheit
Die Schichten wählen die Fahrer*innen selbstständig mit einem Klick. Die beliebtesten Schichten stehen aber nicht allen zur Auswahl. Denn über den Zeitpunkt, zu dem ein*e Fahrer*in Schichten buchen kann, entscheidet das individuelle Rating. Hier nutzt Notime die sogenannte Gamification: Mit spielerischen Elementen sollen Anreize geschaffen und Arbeitskräfte motiviert werden. Die Fahrer*innen werden in «Levels» eingeteilt, die sich nach den Kriterien «Loyalität» und «Zuverlässigkeit» bemessen. Wie in einem Computergame können sie Punkte sammeln. Zum Beispiel gibt’s Extrapunkte für unbeliebte Schichten am Wochenende, während Ferien und Feiertagen, nach 21 Uhr oder für besonders kurze oder extra lange Schichten. Mit Punkteabzug wird sanktioniert, wer Ausrüstung vergisst, lange keine Schicht bucht oder die gebuchte Schicht verpasst.
In beiden Kategorien muss man eine bestimmte Anzahl Punkte erreichen, um ins nächste Level aufzusteigen. Die meisten Punkte erhält man automatisiert, manche werden von den Disponent*innen manuell vergeben oder abgezogen. Ob das in der Realität auch passiert, ist allerdings unklar. Wie in anderen Unternehmen werden die Arbeitskräfte bei der appbasierten Arbeit in verschiedene Gruppen unterteilt: besser gestellte und schlechter gestellte. Bei den meisten Unternehmen geschieht dies anhand von Qualifikationen und Stellenprofile und wirkt sich auf Ansehen und Verdienst aus. Bei Notime hingegen entscheidet das Level der Fahrer*innen, ob sie bessere Schichten erhalten und ein sichereres Einkommen erreichen. Nicht der Lohn dient als Anreiz, sondern die Erwerbssicherheit.
Die App setzt auch auf spielerische Elemente ohne materielle Anreize, um die Motivation der Fahrer*innen zu fördern. Etwa die Kategorie «Customer Service». Hier bewerten die Konsument*innen die Fahrer*innen mit 1 bis 5 Sternen. «Die Fahrer*innen haben sich massiv gegen diese Kategorie gewehrt, weil man kaum Einfluss auf die Bewertung nehmen kann. Nun hat es keinen Einfluss mehr auf das Rating. Aber man kriegt jedes Mal eine Meldung, wenn man ein Kundenfeedback erhalten hat und es wird einem der Durchschnitt der Bewertungen angezeigt», erklärt Marini. Im «Leaderboard» können die Fahrer*innen sich mit anderen Notime-Arbeitskräften messen und vergleichen: «Da gibt es die Kategorien ‹Durchschnittsgeschwindigkeit›, ‹gefahrene Kilometer› und ‹absolvierte Stops›». Man sieht seinen eigenen Wert und die Werte der zwei Besten jeder Stadt.»
Gamification kann auch als Versuch verstanden werden, ein wichtiges Terrain von proletarischem Eigensinn zu besetzen. Denn Arbeiter*innen entwickelten immer wieder Spielereien, gegenseitige Neckereien und andere Mittel, um der monotonen Arbeit für eine kurze Zeit selbstbestimmt zu entfliehen. Das kann die Arbeit erträglicher machen, dem täglichen Zur-Arbeit-Gehen einen Sinn geben neben der reinen Lohnabhängigkeit. Indem das Unternehmen selbst solche Spielchen in die App integriert, besetzt es diesen Aspekt des Arbeitsalltags für das Unternehmen. Ob das gelingt, steht allerdings auf einem anderen Blatt.
Doppelte Ausbeutung: Die Stollen der Wissensgesellschaft
«Früher wurden die Fahrer*innen mit Sternen bewertet. Man startete bei 3 Sternen und konnte bis zu 5 erreichen. Die Vergabe von Sternen lag im Ermessen des Teamleiters. Dies war sehr intransparent und wurde durch die Fahrer*innen kritisiert. Jetzt geschieht das automatisiert. Die Bewertung der Fahrer*innen soll nicht mehr von einem Menschen gemacht werden, sondern von der App», sagt Marini. Die Digitalisierung ersetzt nicht die Fahrer*innen, sondern den Chef. Die Standardaufgaben von Vorgesetzten wie Bewerbungsprozess, Schulung und Mitarbeitende-Bewertung sind weitgehend automatisiert. So spart das Unternehmen die mittlere Managementstufen einfach weg. Auch die Kommunikation mit den Fahrer*innen wird auf ein Minimum reduziert. Ursprünglich waren die Fahrer*innen gar als freischaffende Auftragsnehmer*innen beschäftigt und hatten keine Anstellung, wie das etwa von Uber praktiziert wird. Erst der Protest von Fahrer*innen und Gewerkschaften hat Notime gezwungen, sie ordentlich anzustellen.
Die Arbeits- und Anstellungsmodelle bei Plattform-Unternehmen wie Notime reflektieren die sonderbare Ideologie der IT-Startups: Die meisten Leute im Büro sind angestellt, um die digitalen Systeme zu programmieren oder zu vermarkten. Sie sehen jedes Problem schlicht als technisch zu lösende Aufgabe. Marini: «Im Selbstverständnis des Managements ist Notime keine Kurierfirma oder ein Logistikunternehmen, sondern ein IT-Startup. Darum versuchen sie auch alle Probleme technisch zu lösen. Es gibt zum Beispiel das Problem, dass die Restaurants unterschiedlich arbeiten: Einige bereiten das Essen sofort zu, wenn sie die Bestellung kriegen, einige, wenn die Fahrerin eintrifft, einige auf die Zeit, welche ihnen das System vorgibt und einige sind während der Rush-Hour sowieso notorisch verspätet. Das hat Auswirkungen auf die Gestaltung der Touren. Daher sammelt die Firma kontinuierlich Daten darüber, wie lange Fahrer*innen in den verschiedenen Restaurants warten mussten, um diese Infos in den Algorithmus einfliessen zu lassen.»
Zwar wäre dieses Problem dank der Erfahrung der Fahrer*innen und der Disponent*innen viel leichter zu lösen. Aber dieses Wissen lässt sich nicht automatisieren. Also betreibt die Firma einen ziemlichen Aufwand, um solche Infos automatisch zu erfassen und auszuwerten. Das Unternehmen hat also nicht nur das Interesse, die Lieferungen möglichst schnell und effizient zu gestalten, sondern auch Daten darüber zu generieren und auszuwerten. Hier zeigt sich eine Besonderheit der app- und algorithmusbasierten Arbeit. Genau betrachtet leisten die Fahrer*innen doppelte Arbeit: Einerseits stellen sie ihre Arbeitskraft zur Verfügung und befördern Waren. Andererseits, und darauf ist das Unternehmen ebenso angewiesen, generieren sie Daten. Sie erarbeiten also das Rohmaterial für die Digitalisierung. Ihre Arbeit schafft erst das Datenmaterial, ohne das Algorithmen und digitaler Kapitalismus nicht funktionieren könnten.
Marini bestätigt, dass das Unternehmen viel Wert auf die Entwicklung der App lege: «Ständig probieren sie was Neues aus.» Und wie können sich die Fahrer*innen gegen die Überwachung und Datensammelei wehren? «Ihre App bleibt voller Lücken und Fehler. Und der ganze Arbeitsprozess ist überhaupt nicht so ausgefeilt, wie Notime uns gerne weissmachen will. Das muss man ausnutzen.» Als wir mehr darüber erfahren wollen, winkt Marini lachend ab: «Notime hält ihren Algorithmus ja auch geheim, und so sollten wir das mit unseren Tricks auch machen».