In der Kolumne «Notizen zur Lohnarbeit», die künftig in unregelmässigen Abständen erscheinen wird, geht es um die Arbeit und die kleinen und grossen Widerstände dagegen. Dieser erste Beitrag bildet den Auftakt und führt ins Thema ein.
Noch vor einigen Jahren wurde man bei der Erwähnung von Klassen und Klassenkämpfen von mancher Seite mit einem mitleidigen Blick bedacht. Diese Zeiten scheinen zum Glück vorbei. Auch in der Schweiz interessieren sich wieder mehr Leute für Klassenkampf. Von lobenswerten Ausnahmen abgesehen, bleibt der Bezug auf die Kategorie Klasse jedoch merkwürdig abstrakt. So bringt es selbst der im Frühjahr erschienene links-sozialdemokratische Widerspruch zum Thema «Identitätspolitik und soziale Frage» im Editorial auf den Punkt: «Wie schwer ‹race, class and gender› auf einen Nenner zu bringen sind, zeigt sich auch daran, dass in vielen Beiträgen in diesem Heft die Kategorie ‹class› merkwürdig abwesend ist. […] Es fehlt, so scheint es nicht nur uns, an einer linken Aktualisierung der Begriffe ‹Klasse› und ‹soziale Frage› in Bezug auf unsere realen Lebensbedingungen und Alltagskämpfe».
Individuelle Bedürfnisse und Klasseninteressen
Erstaunlicherweise ist man bei den Kritiker*innen der Verwendung des Begriffs «Klasse» weiter. In ihrer Kritik am ajour magazin schreibt die Zeitschrift Dissonanz: «Nichts [ist zu lesen] von einer Kritik beispielsweise an der ‹Subsumtion› der Konflikte und Begehren des Individuums unter die Klassendialektik, die gewisse Leute selbst dann noch werden der Realität aufzwingen wollen, wenn der letzte Arbeiter von Maschinen ersetzt wurde» (Dissonanz Nr. 45). Mit dem Vorwurf der «Subsumtion» unterstellt die Dissonanz, dass das ajour magazin den individuellen Bedürfnissen der Menschen einen abstrakt-theoretischen Begriff der Klasse überstülpt, der nichts mit ihrer Realität zu tun hat und damit den konkreten Begehren der Menschen Gewalt antut. Bei aller berechtigten Kritik am Beitrag in der Dissonanz, wird hier ein entscheidender Punkt richtig benannt. Jede*r kennt die Auseinandersetzungen am Arbeitsplatz um die Unterordnung der eigenen Bedürfnisse unter das «Weisungsrecht» der Kapitalist*innen. Und sei es nur die zusätzliche Pause, die einem nach Dienstreglement gar nicht zustünde. Was die Leute der Dissonanz dann aber nicht verstehen: Es ist nicht ein abstrakter Begriff, welcher der Realität aufgezwungen wird. Vielmehr ist es gerade umgekehrt so, dass sich die Kapitalvermehrung als abstrakter Zwang die konkreten Begehren der Proletarisierten unterwirft. Ob es sich dabei nun um einen Job in der Fabrik, im Dienstleistungssektor oder in der Kreativindustrie handelt, die Proletarisierten bekommen dieses abstrakte Gesellschaftssystem ganz konkret am eigenen Körper zu spüren, wenn ihnen der Lohn gekürzt, die Arbeitszeit verlängert, der Stress erhöht oder gar die Kündigung ausgesprochen wird. Von diesem Gewaltverhältnis sind alle betroffen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. Die gleiche Lage macht sie ganz objektiv zur Klasse. Darum ist dieser Begriff kein von «taktierenden Marxisten» (Dissonanz) willkürlich übergestülpter, sondern schlicht die auf seine Abschaffung zielende theoretische Fassung der real existierenden Lage der übergrossen Mehrheit im Kapitalismus.
Die Arbeiter*innen sind ein Unsicherheitsfaktor
Wir dürfen aber auch nicht der Versuchung erliegen, diesen Widerspruch nur einseitig als gelungene Unterwerfung der Arbeitskraft zu sehen. Denn die Arbeiter*innen sind für das Kapital ein unsicherer Faktor. Zwar erkauft es sich mit dem Lohn das Recht zur Nutzung der Arbeitskraft, aber ob dabei auch eine lohnenswerte Arbeitsleistung rauskommt, ist nicht garantiert. Das liegt in grossem Masse an den Fähigkeiten und der Bereitschaft der Arbeiter*innen, die Arbeit auch entsprechend effizient auszuführen. Da dies nicht garantiert ist, muss das Kapital die Arbeiter*innen ständig kontrollieren. Diese Kontrolle reicht von den streng hierarchischen Methoden mit Kennzahlen und direktem Befehl, wie wir sie zum Beispiel aus Call Centern kennen, bis zu den neuesten Managementmethoden mit klingenden Namen wie «Holocracy», welche die Arbeitsleistung mit horizontalen Strukturen und Gruppenarbeiten zu steigern versuchen. Immer aber geht es darum, aus der Arbeitskraft möglichst viel Leistung zu pressen. Dass diese Situation für das Kapital ein andauerndes Ärgernis darstellt, lässt sich allein schon aus der Unmenge an Managementliteratur zu Personalführung schliessen, die man in jeder grösseren Buchhandlung vorfindet.
Widerstand hat viele Gesichter
Die Arbeiter*innen realisieren diese ständigen Versuche des Kapitals, mehr Leistung aus ihrer Arbeitskraft rauszuholen. Sie sind gezwungen, sich in irgendeiner Form dazu zu verhalten. An dieser Stelle sollte man nicht dem Kurzschluss erliegen und den Proletarisierten eine rebellische Subjektivität per se unterjubeln. Denn die Bandbreite der Reaktionen reicht von fast totaler Anpassung, ja sogar Verinnerlichung des Leistungszwangs, über dessen Sabotage oder der Flucht davor durch Blaumachen, bis hin zur offenen Opposition dagegen. Letzteres ist leider in unseren Breitengraden eher selten anzutreffen. Meistens findet man eine Situation vor, die zwischen Anpassung und kleinen Akten des Widerstandes changiert. Hier wird eine zusätzliche Rauch- oder Kaffeepause eingelegt, wenn es der Chef nicht merkt. Dort wird eine Statistik «geschönt», damit dem Leistungsdruck etwas die Spitze gebrochen werden kann. Andere wiederum verschaffen sich ein verlängertes Wochenende, indem sie am Freitag oder am Montag blaumachen. Dieses Verhalten nannte man früher «Insubordination» der Arbeiter*innen und ist so alt wie der Kapitalismus selbst. Es wandelt sich mit der Zeit und dem Stand der Technik. Immer aber geht es darum, den Druck der durch die Kapitalverwertung entsteht, zu lindern oder gar abzuwehren. Um dies zu erreichen müssen die Arbeiter*innen sich für einen kurzen Moment der Logik des Kapitalismus entziehen. Das bedeutet keinesfalls, dass diese kleinen Akte des Widerstands automatisch revolutionär wären. Sie können aber im besten Fall zur Ausbildung einer rebellischen Subjektivität der Arbeiter*innen beitragen, indem sie mit ihrer Insubordination die Autorität des Kapitals untergraben. So schnellte die Absenzquote der SBB-Werkstätte in Bellinzona während der Pilz-Saison jeweils sprunghaft in die Höhe. Dies in einem solchen Masse, dass sich die NZZ 2005 im ganzen Artikel «Pilze sammeln statt Lokomotiven warten» bitterlich darüber beklagte. Die gleichen Arbeiter*innen wehrten 2008 mit einem beispiellosen Streik die Schliessung ihres Werks durch die SBB ab.
Den Blick auf die rebellische Subjektivität richten
Nun ist der Gedanke ja nicht neu, sich mit dem Verhalten der Proletarisierten auseinanderzusetzen. Bereits in den 1960er- und 1970er-Jahren versuchten Gruppen wie «Socialisme ou Barbarie» in Frankreich oder die Operaist*innen in Italien die Konflikte im Innersten der Lohnarbeit zu untersuchen und als potentielle Sprengpunkte zu politisieren. Für diese Art der politischen Praxis wurde der Begriff «Mit-Untersuchung» geprägt. Auch heute gibt es Menschen, die solche Untersuchungen durchführen. So sind zum Beispiel im Juni 2017 in der Zeitschrift PROKLA die Resultate einer Mit-Untersuchung der widerständigen Verhaltens der Arbeiter*innen bei Amazon veröffentlicht worden: (Georg Barthel und Jan Rottenbach: Reelle Subsumtion und Insubordination im Zeitalter der digitalen Maschinerie. Mit-Untersuchung der Streikenden bei Amazon in Leipzig).
Wenn wir tatsächlich den Begriff der Klasse wieder mit Leben füllen wollen, dann müssen wir unseren Blick wieder auf die Orte richten, wo der Kapitalismus tagtäglich produziert wird. Das bedeutet nicht, dass nun eine «Mit-Untersuchung» nach der anderen durchgeführt werden muss. Es würde schon genügen, wenn wieder eine Sensibilität für die Orte im eigenen Alltag entsteht, an denen es knirscht im kapitalistischen Getriebe und sich potentiell eine rebellische Subjektivität formt. Diese Kolumne will in unregelmässigen Abständen versuchen, die Entstehung einer solchen Subjektivität zu befördern.