Sterben und sterben lassen. Der Ukrainekrieg als Klassenkonflikt

Die russische Invasion in der Ukraine traf eine bereits desorientierte europäische Linke ins Mark: Einige hielten im Reflex an überlieferten Prinzipien fest, ohne deren historische Entstehungsbedingungen abzuklopfen – als wäre die Welt ungefähr 1918 stehengeblieben. Andere wiederum hissten eilig die ukrainische Flagge. Ihnen ist der Antifaschismus zur Angelegenheit der NATO geronnen, in Russland glauben sie das grosse Weltenunheil zu erkennen. In beiden Positionen steckt ein Moment, das es zu diskutieren gilt: Was droht in der geopolitischen Dreieckskonstellation Russland, USA, China? Und was bedeutet der Krieg für Militarisierung und Rechtsrutsch europäischer Gesellschaften?

Vor allem gegen die Militarisierung will das neue Buch «Sterben und sterben lassen», erschienen im Verlag «Buchmacherei», Einspruch einlegen: Ukrainische und russische Linke, die sich dem Ruf nach Landesverteidigung widersetzen, berichten darin vom Leben hinter den Frontlinien. Zugleich versammelt das Buch Analysen aus der westlichen Linken zum neuen progressiven Militarismus, der geopolitischen Zuspitzung sowie der Rolle des Weltmarktes.


Buchvorstellung und Diskussion in Zürich
mit AK Beau Séjour und Communaut


7. Dezember 2024, 19.30 Uhr,
Postsquat (Wipkingerplatz 7).

organisiert von der Gruppe Eiszeit

Weitere Infos: https://kosmoprolet.org/de/sterben-und-sterben-lassen-der-ukraine-krieg-als-klassenkonflikt


Im Folgenden veröffentlichen wir die Einleitung des neuen Sammelbandes:

Unmittelbar nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 öffnete sich in den westlichen Ländern in unheimlicher Geschwindigkeit und mit erdrückender Wucht eine ungewohnte Kriegsfront. Der Militarismus und der Ruf nach Aufrüstung waren plötzlich nicht mehr die Sache der politischen Rechten, sondern fanden ihre mitunter vehementesten Fürsprecher in linken und linksliberalen Milieus, wo die Remilitarisierung der Deutschen nun offen zur antifaschistischen Pflicht erklärt wurde. Im Spiegel bezeichnete der Kolumnist Sascha Lobo die Gegner von Waffenlieferungen als »Lumpen-Pazifisten«, die dem »russischen Faschistenführer Putin« die Ukraine zum Fraß vorwerfen wollen. Der Osteuropahistoriker Karl Schlögel zog auf ARD Parallelen zur spanischen Volksfront gegen Franco: »Eigentlich sollten wir nicht hier sitzen, sondern – wie in Spanien 1936 – in Internationale Brigaden gehen und kämpfen.« Und der Welt-Autor Deniz Yücel begründete die Unterzeichnung eines offenen Briefes an Bundeskanzler Olaf Scholz, den u. a. auch Lobo und Schlögel sowie der ehemalige Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger und der FDP-Politiker Gerhart Baum erstunterzeichneten, und der die kontinuierliche militärische Aufrüstung der Ukraine als Interesse Deutschlands stark macht, mit seiner Lektüre von Paul Celans Gedicht Todesfuge. Die Produktion der Todeswaren von Tyssenkrupp, Diehl oder Rheinmetall, die der deutsche Staat, drei Wochen nach der Invasion, mit einem milliardenschweren Sondervermögen ankurbelte und im Grundgesetz verankerte, wurde zur Garantie des freien Lebens erklärt, da der Tod nun ein Meister aus Russland sei.

Neuer progressiver Militarismus

Dieser neue progressive Militarismus befiel selbst Teile der sozialistischen, anarchistischen und autonomen Linken. Auch hier hat der Kampf gegen die russische Tyrannei nun oftmals Vorrang vor der Kritik am eigenen Imperialismus, da der Hauptfeind für viele nicht mehr im eigenen Land steht, sondern im Osten nur auf ein Zeichen westlicher Schwäche wartet, um loszuschlagen. In der sozialistischen Tageszeitung nd konnte man deshalb kurz nach der russischen Invasion von einer queeren Autorin lesen, dass wir »auch als Linke nicht mehr um die Einsicht herumkommen, dass die destruktive, tödliche Auflösung gegebener Ordnung in mitteleuropäischen Staaten nicht hinnehmbar ist. Zu ihrer Verhinderung gehört auch militärisches Gegengewicht.« Der britische linke Publizist Paul Mason, Autor von Büchern über postkapitalistische Ökonomie und Faschismus, rief zur Unterstützung von »erhöhten Verteidigungsausgaben, anhaltender Unterstützung von Waffenlieferungen an die Ukraine, einer gestärkten NATO und nuklearer Abschreckung« auf.

Im Lager der prowestlichen Linken wurde das ukrainische Opfer, kaum überraschend, mit großem Applaus begrüßt. So rehabilitierte die Wochenzeitung Jungle World, die sich einst der Kritik des Antiimperialismus verpflichtete, die internationale Solidarität: »Emanzipatorische Kräfte haben sich ausschließlich an den Interessen der Angegriffenen, Unterdrückten und Verjagten zu orientieren […]. Viele Menschen in der Ukraine wehren sich gegen den russischen Imperialismus – unabhängig davon, was die USA oder Deutschland tun. Erst dieser Widerstand eröffnete den Nato-Staaten überhaupt erst die Chance, Russlands Position zu schwächen.« In derselben Zeitung verkündete ein ukrainisch-deutscher Autor, der sich gegen die antimilitaristische Linke richtete, die neuen antifaschistischen Bündnispartner nach der Zeitenwende: »Der Dreck unter einem einzigen Fingernagel eines Asow-Soldaten ist mehr wert als die germanische Linke in ihrer Gesamtheit.«

Doch selbst innerhalb traditionell antimilitaristischer Fraktionen der Linken kam es in Teilen zu einer Revision alter Positionen. Sozialistische Gruppen ließen verlautbaren, dass der Faschismus seine Heimat nun in Moskau habe und die westlichen Gesellschaften sowie die globale Arbeiterklasse bedrohe, weshalb die maximale Bewaffnung der Ukraine durch die NATO und die Niederlage Russlands (d. h. ein Sieg des US-Imperialismus) im Interesse des Weltproletariats wären. Politische Perspektiven, die auch im anarchistischen Milieu zirkulieren, das ebenfalls tief gespalten ist. Hier bewegt man sich zwischen der Bereitschaft mit Asow-Faschisten in die Schützengräben zu gehen bis zur Propagierung militanter Antikriegspolitik mittels Anschlägen und Sabotageaktionen.

Der gegenwärtige linke Bellizismus macht die Verteidigungskräfte der Ukraine und die NATO-Armeen zu antiimperialistischen Kampfeinheiten, die im Interesse von bedrohten Minderheiten eine Heimat verteidigen, die durch den russischen Faschismus und Imperialismus existentiell bedroht sei. Man bewegt sich hierbei vollständig im Legitimationsgerüst einer US-Außenpolitik, deren Expansionismus sich in den letzten Dekaden neue Kleider anlegte, um seine militärischen Interventionen, unter Verweis auf die Unterdrückung von Minderheiten, Frauen oder queeren Identitäten, auf der Höhe der Zeit rechtfertigen zu können. Gleichzeitig werden die machtpolitischen Interessen der Gegenwart des neuen Kalten Krieges unter Unmengen an historischen Referenzen begraben.

«Antifaschismus» und «Denazifizierung»

Je nach politischem Interesse und Lager wird sich fraktionsübergreifend geschichtlicher Schablonen bedient, um mit der Weihe der Historie und dem Ziel ihrer Wiedergutmachung in die Schlacht ziehen zu können. Die Referenzen sind so grenzenlos wie die Schrecken des 20. Jahrhunderts: der Erste oder Zweite Weltkrieg, die sowjetischen Militärinterventionen in Berlin, Budapest, Prag und Afghanistan, oder auch der Kosovokrieg. Anarchisten berufen sich auf den Kampf des ukrainischen Bauernanarchisten Nestor Machno, Sozialisten auf die Volksfrontpolitik von 1936 und Antifaschisten auf die Résistance gegen den Hitlerfaschismus. Die Schlacht von Mariupol wird mit Stalingrad und die Annexion der Krim mit der deutschen Einverleibung des Sudetenlandes verglichen. Vor dem US-Kongress beschwor Präsident Wolodymyr Selenskyj den japanischen Überfall auf Pearl Harbor, im belgischen Parlament die Schlacht von Ypern, in Madrid das Massaker von Guernika und in Tschechien den Prager Frühling. Zugleich wird unermüdlich, unter Verweis auf das Münchner Abkommen von 1938, jede Kompromissbereitschaft mit verhängnisvollem Appeasement und Verrat gleichgesetzt. Um diese Wiederkehr der Vergangenheit abzuwehren, verbünden sich viele Linke mit der eigenen herrschenden Klasse und lassen die NATO die internationale Solidarität erledigen.

Auf der anderen Seite treibt Putin das gleiche Spiel. Er begründete die Invasion in der Ukraine mit einer notwendigen »Denazifizierung« und »Decommunisierung«, beschwört einen neuen »Großen Vaterländischen Krieg« und bezeichnet seine Gegner unablässig als »Nazis«. Zugleich wird die russische Erinnerungspolitik, die sich der verbreiteten Sowjetnostalgie bedient, von allem Sozialistischen gereinigt. Schließlich muss der russische Oligarchenkapitalismus, der seine Bürger:innen als willfährige Arbeiter und Soldaten braucht, die Erinnerung an die Arbeiter- und Soldatenräte vernichten. Und auch in Russland kann durch diese bestimmte Erinnerungspolitik, auch unter sogenannten Linken, nicht unerhebliche Zustimmung gewonnen werden.

Zeitenwende: Aufrüstung und Austerität

Der Vorkrieg schafft das für den Krieg notwendige Rüstzeug: die moralische Rechtfertigung und die psychologischen Voraussetzungen. Die deutsche Rüstungsindustrie, die bis dato als ethisch kaum tragbare Branche galt, zählt heute fraktionsübergreifend als systemrelevanter Lebensretter und rehabilitierte sich quasi über Nacht. »Frieden ist eben kein Normalzustand – sondern eine wertvolle zivilisatorische Errungenschaft, die vor Bedrohungen zu schützen ist und dazu auch einer Wehrhaftigkeit bedarf, die auf militärischen Fähigkeiten beruht«, so ein Pressesprecher von Rheinmetall zum neuen Pazifismus der alten Todesproduzenten. 

Diese sogenannte Zeitenwende hatte zugleich zur Folge, dass die Bedeutung anderer zivilisatorischer Errungenschaften verblassen musste: Bildung, Gesundheit, Entwicklung, Wirtschaft/Klima, Wohnen und Umwelt erhalten im geplanten deutschen Haushaltsbudget für das Jahr 2024 zusammen immer noch rund 10 Mrd. weniger finanzielle Zuwendung als das Militär. Gegen diese massive Aufwertung des Krieges gab bzw. gibt es jedoch kaum nennenswerten Widerstand. Im Gegenteil: der Westen, der den Menschen in der letzten Dekade wenig mehr bieten konnte als soziale Prekarisierung, Abstiegsängste und autoritäre Krisenpolitik konnte angesichts der »russischen Gefahr« zunächst neue Lebenskraft schöpfen.

So schufen der für die Mehrheit völlig unerwartete russische Angriff auf die Ukraine und die schnelle Eskalation des Krieges, der schnell die ukrainische Zivilbevölkerung mit unerbittlicher Härte traf, im Westen nicht nur Betroffenheit und Angst, sondern auch einen gesteigerten Patriotismus, der zugleich auf die kämpfenden Ukrainer projiziert wurde. In den endlosen Kriegsberichterstattungen, die die krisengebeutelte Bevölkerung des Westens aus der Coronakrise in die Schützengräben des Ostens führte, wurde der ukrainische Oligarchenstaat, der neuen manichäischen Vorkriegslogik folgend, zum Bollwerk der Demokratie erklärt und die Ukrainer, wie es der Soziologe Wolodimir Ishenko ausdrückt, »als Kämpfer und Sterbende dargestellt, die für etwas kämpfen, an das zu viele Westler nicht mehr glauben. Dieser edle Kampf bringt (buchstäblich) neues Blut in dessen krisengeschüttelten Institutionen und ist verpackt in eine zunehmend identitäre ‚zivilisatorische‘ Rhetorik.«

Aufrüstung dient nicht der Freiheit und Demokratie

Gegen diese neuen Kriegstrommler und ihre zynische Logik, die die schrankenlose Aufrüstung zur Bedingung menschlicher Freiheit und Zivilisation erklären, richtet sich der vorliegende Sammelband. Er richtet sich an alle Antimilitarist:innen, die gegenwärtig wohl leider ähnlich minoritär sind, wie die sozialistischen Kriegsgegner, die sich im September 1915, als Ornithologen getarnt, in der Pension Beau Séjour im Schweizer Zimmerwald trafen, und die angesichts ihrer Zwergenhaftigkeit darüber scherzten, »dass es ein halbes Jahrhundert nach Begründung der Ersten Internationale möglich war, alle Internationalisten in vier Wagen unterzubringen«. Er richtet sich ebenso an alle Unentschlossenen, die an den humanitären Kräften der Aufrüstung und des Westens zweifeln.

Denn schließlich, soviel sollten Linke eigentlich wissen, wird die Aufrüstung durch den Westen nicht betrieben, um Freiheitsrechte von Minderheiten zu schützen, sondern sie ist Ausdruck einer weiteren Eskalationsstufe kapitalistischer Staatenkonkurrenz, die aus der unipolaren US-Hegemonie selbst hervorgegangen ist, die sich einige nun wieder zurückwünschen. Der russische Imperialismus will sich mit Gewalt als Regionalmacht in der Ukraine behaupten, deren Kampf um nationale Souveränität der Westen nutzt, um Russland von der Weltbühne zu verdrängen, zu schwächen oder sogar zu zerschlagen. Denn der eurasische Raum nimmt eine zentrale Stellung ein in der US-Geopolitik.

Der einflussreiche US-Politikberater Zbigniew Brzezinski legte davon in seinem berühmt gewordenen Buch »Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft« offen Zeugnis ab. Er schrieb: »Eurasien ist der größte Kontinent der Erde und geopolitisch axial. Eine Macht, die Eurasien beherrscht, würde über zwei der drei höchstentwickelten und wirtschaftlich produktivsten Regionen reichen. […] Nahezu 75 Prozent der Weltbevölkerung leben in Eurasien, und in seinem Boden wie auch seinen Unternehmen steckt der größte Teil des materiellen Wachstums der Welt. […] Als Ganzes genommen stellt das Machtpotenzial dieses Kontinents das der USA weit in den Schatten.« Wollen die Vereinigten Staaten ihre hegemoniale Stellung behaupten, so darf kein Staatenbündnis zustandekommen, das dieses Potential beherrschen kann. Das Aufkommen einer solchen »dominierenden, gegnerischen Macht« müsse deshalb um jeden Preis verhindert werden. Die Ukraine spielt dabei eine entscheidende Rolle, denn ohne die Ukraine verliert Russland sein eurasisches Potenzial und seine geopolitischen Optionen werden auf drastische Weise beschnitten. Die Vorgeschichte des aktuellen Krieges lieferte den Beweis, dass Brzezinski nicht auf taube Ohren stieß.

Bereits zu Beginn des letzten Jahrzehnts förderte die US-amerikanische Außenpolitik den ukrainischen Nationalismus, der ihr als antirussische Stoßbrigade diente. So schrieb Anne Applebaum, Ehefrau des polnischen Außenministers Radoslaw Sikorski, und mittlerweile Staff-Writer der US-Zeitschrift The Atlantic bereits im Jahr 2014: »Die winzige Gruppe von Nationalisten in der Ukraine, die wir jetzt vielleicht als Patrioten bezeichnen können, ist die einzige Hoffnung des Landes, der Apathie, der räuberischen Korruption und schließlich der Zerstückelung zu entkommen.« Zugleich müsse der Krieg, so die Hoffnung vieler US-Strategen, Russland möglichst hart treffen, um vor den Augen Chinas ein Exempel zu statuieren, was dem Konkurrenten im Falle einer Aggression gegen Taiwan blühe. Und auch China scheint von den russischen Erfahrungen mit Sanktionen und der militärischen Konfrontation mit dem Westen profitieren zu wollen, schließlich bezieht das Land einen bedeutenden Anteil seiner Waffen aus Russland oder orientiert sich an russischen Prototypen.

Statt sich für eines dieser kapitalistischen Lager zu entscheiden, was einer Aufgabe der eigenen politischen Existenz gleichkommt, muss – gerade in dieser Situation – auf die Totalität imperialistischer Auseinandersetzung hingewiesen und nicht zwischen guten und bösen Imperialismen unterschieden werden. Der Sieg eines imperialistischen Lagers löst nicht die Probleme der Lohnabhängigen, er schafft nur neue und sorgt zugleich für eine Wiederkehr der Staatenkonkurrenz und des Krieges.

Dušan Popović, der Vorsitzende der Serbischen Sozialdemokraten, wusste das bereits im Jahr 1915. Seine Partei stimmte am Vorabend des Ersten Weltkriegs gegen die Kriegskredite, obwohl ihr kleines Land angegriffen wurde:

»Wenn die Sozialdemokratie irgendwo das Recht hatte, für den Krieg zu stimmen, dann vor allem in Serbien. Für uns war aber die entscheidende Tatsache, dass der Krieg zwischen Serbien und Österreich nur ein kleiner Teil einer Totalität war, nur der Prolog zu einem größeren, europäischen Krieg, und dieser hatte – davon waren wir zutiefst überzeugt – einen deutlich ausgeprägten imperialistischen Charakter. Daher hielten wir es als Teil der großen sozialistischen, proletarischen Internationale für unsere Pflicht, uns dem Krieg entschieden entgegenzustellen.«

Popović bezeichnete wenig später die Russische Revolution als die »beste Garantie für den Weltfrieden«. Und auch wir halten die Überwindung imperialistischer Konkurrenz durch eine Klassenbewegung von unten für die einzige und beste Garantie für den Weltfrieden, in so weiter Ferne sie momentan auch liegen mag.

Der Krieg als Klassenkonflikt

Denn nach dem russischen Angriff gab es weder Klassen und Parteien mehr, sondern nur noch nationalen Freund oder Feind. Die Ukrainer:innen, von Putin zu Nazis erklärt, wurden von der eigenen Regierung und dem westlichen Imperialismus zu einem homogenen Volk von Freiheitskämpfern gemacht. Eine Analyse und Kritik der ukrainischen Klassengesellschaft, ihrer politischen Landschaft sowie des westlichen Diskurses über den Krieg und der damit verbundenen wahnwitzigen Aufrüstung wurden unter Verweis auf das ukrainische Interesse als Verrat abgestempelt und/oder unter den Generalverdacht des Putinismus gestellt. Doch es ist gerade der Krieg, der die Klassenwidersprüche und autoritäre politische Tendenzen zuspitzt. Im Westen wird das Sagbare immer weiter eingeschränkt, die Repression verstärkt und die kommenden Austeritätsrunden bereits angekündigt.

Währenddessen werden in der Ukraine oppositionelle Parteien verboten und verfolgt, Arbeitsrechte ausgehöhlt und die militärische Verteidigung zerfrisst die ökonomische Unabhängigkeit des Landes. Im Jahr 2023 explodierte die Staatsverschuldung um 30,4 Prozent und hat mittlerweile astronomische 161 Milliarden US-Dollar erreicht. Die Ukraine ist mit 9 Milliarden US-Dollar mittlerweile der drittgrößte Schuldner des IWF. Eine Verschuldung, die dem westlichen Kapital die Tore des zerstörten Landes öffnet, wie es Eric Toussaint, Historiker und Experte für internationale Schuldenbeziehungen, ausdrückt: »Die Schulden, die die Ukraine anhäuft, dienen bereits jetzt als Druckmittel in den Händen der Gläubiger, um das Land zur Umsetzung des unpopulären neoliberalen Modells zu bewegen, und in Zukunft wird dies so weitergehen. Die Gläubiger werden Privatisierungen von öffentlichen Unternehmen, natürlichen Ressourcen, Ackerland usw. fordern, um sich einen Teil des ukrainischen Reichtums anzueignen.« 

Die westlichen Geldgeber formulierten bereits ihre dementsprechenden Erwartungen gegenüber einer Nachkriegsukraine: Laut Weltbank erfordert der Nachkriegsaufbau, der ca. 750 Milliarden US-Dollar kosten wird, eine weitere »Liberalisierung des Landmarktes«, und auch die sogenannte Geberkonferenz fordert weitere Privatisierung als Bedingung ihrer finanziellen Gaben. Die westlichen Waffen, mit denen die Ukrainer das Land verteidigen, sind folglich zugleich ein Hebel ihrer Enteignung.1

Auf die Klassendimension des Krieges hinzuweisen ist Ziel des Herausgeber:innenkreises. Hierfür arbeiteten wir mit dem Online-Magazin communaut zusammen, das seit Kriegsbeginn zahlreiche Beiträge gegen den neuen Militarismus veröffentlichte. Für den ersten Teil des Buches führten wir Interviews mit linken Aktivist:innen aus Russland und der Ukraine, die dem Narrativ eines antiimperialistischen Volkskriegs widersprechen, wie es auch von nicht wenigen ukrainischen Linken behauptet wurde, die sich der Armee anschlossen und zu Advokaten des globalen linken Militarismus wurden1 Unsere Gesprächspartner:innen kommen aus verschiedenen Strömungen der Linken, doch sie vereint die Verweigerung, sich mit der eigenen Nation gemein zu machen und in diesem geopolitischen Konflikt auf eine Seite zu schlagen.

Kriegsgegner:innen auf beiden Seiten

Der junge Kommunist und Informatikstudent Andrew aus dem westukrainischen Lwiw entzog sich im Februar 2022 dem Militärdienst und verbrachte die ersten Monate des Krieges in einem Versteck. In mehrteiligen Gesprächen, die unmittelbar nach Kriegsbeginn geführt wurden, berichtet er von den ersten Tagen der Invasion: er spricht über den Morgen des 24. Februar, über die Anrufung der Bevölkerung durch die Regierung, die autoritären Maßnahmen der Exekutive, die erstarkende Rolle der Ultrarechten, sowie über den Klassencharakter des Krieges.

»Wir haben hier nichts zu verteidigen, außer die Macht der Obrigkeit und das Eigentum der Unternehmen«, erwidert die anarchistische Gruppe Assembly den Anrufungen zur Landesverteidigung. Die Medienaktivist:innen aus Charkiw verweigern sich seit dem Beginn des Krieges dem Militarismus und Patriotismus, der große Teile der anarchistischen Linken der Ukraine erfasste. Sie berichten vom wachsenden Unmut der ukrainischen Bevölkerung, in der sich die massive Erschöpfung nach über zwei Jahren Krieg mittlerweile auch gegen die eigene Regierung zu richten beginnt, die, ändere sie nicht ihren autoritären Kurs der Mobilisierung, sich möglicherweise bald mit einer revolutionären Situation konfrontiert sehe, so Assembly.

Für die anarcho-syndikalistische Gruppe KRAS aus Russland lässt sich momentan nicht nur in Russland, sondern auch im Westen der Versuch der Herrschenden beobachten, »mittels Vorspiegelung einer ›äußeren Bedrohung‹ die Mobilisierung der Gesellschaft zu erreichen«, um die allumfassende Krise des Politischen zu überwinden. Doch auch in Russland nehme die Kriegsmüdigkeit zu. Um auf diese Kriegsmüdigkeit adäquat reagieren zu können, dürfe eine Linke jedoch »nicht mit den herrschenden Wölfen heulen« und müsse stattdessen über die realen Kriegsgründe und ihren Klassencharakter aufklären.

Man solle die Waffen doch lieber an ihre Gruppe als an die ukrainische Armee liefern, so Taniev von der ukrainischen Arbeiterfront (RFU). Er berichtet in einem kurzen Gespräch über die Schwierigkeiten einer kommunistischen Gruppe in der Ukraine und die Beratungsarbeit für Soldaten, die sie leisten.

Der Politiker Maxim Goldarp von der sozialistischen Partei Union der linken Kräfte (SLS), der bereits im letzten Jahr aufgrund von politischer Verfolgung das Land verlassen musste, schildert die massive Verschärfung autoritärer Maßnahmen durch die ukrainische Kriegsregierung. Seine Partei wurde verboten, die Leitungen zahlreicher regionaler Parteiorganisationen von Sonderdiensten verhaftet, das Parteibüro zerschlagen und das Eigentum seiner Eltern beschlagnahmt. Laut Goldarp diente der Krieg als Vorwand, um in der Ukraine eine Diktatur zu errichten.

Der Arbeitskreis, der hinter dem vorliegenden Sammelband steckt, gab sich den Namen AK Beau Séjour. So hieß die Pension im Schweizer Örtchen Zimmerwald, in der sich 1915 die verbliebenen Kriegsgegner nach dem Zusammenbruch der II. Internationale trafen. Ähnlich wie im Jahr 1914 ergriffen auch im Jahr 2022 zahlreiche Linke Partei für das eigene bürgerliche Lager statt den Klassencharakter des Krieges zu benennen und dagegen zu mobilisieren. Und selbst in Zimmerwald herrschte Uneinigkeit unter den Kriegsgegnern, da die Mehrheit der anwesenden Sozialisten nicht für einen Bruch mit ihren sozialdemokratischen Parteien zu gewinnen war. Der zweite Teil des Buches setzt sich mit der Uneinigkeit der Linken im Angesicht des Krieges auseinander.

Uneinigkeit in der Linken

Axel Berger beschreibt in seinem Beitrag die Gespaltenheit der sozialdemokratischen Bewegung im Angesicht des Gemetzels des Ersten Weltkriegs, das schließlich erst durch die ausbrechenden Revolutionen und Arbeiteraufstände beendet wurde.

Auf den historischen Beitrag von Axel Berger antwortet Peter Nowak mit der Frage nach der Aktualität der »Zimmerwalder Linken«. Er versucht zu beantworten, wie eine linke antimilitaristische Praxis heute aussehen könnte.

Warum ist die Idee eines ukrainischen Sieges, der auch viele Linke anhängen, mit mannigfachen Problemen verbunden? Und wie könnte eine Klassenpolitik in Kriegszeiten praktisch aussehen? Aaron Eckstein und Ruth Jackson formulieren in ihrem Beitrag »Don’t walk in line!« eine antimilitaristische Position, die gängige linke Argumente für den Krieg einer Kritik unterzieht.

Die Gruppe Internationalist Perspective erhebt ebenfalls Einspruch gegen den neuen linken Militarismus. Ihr Beitrag erweitert den Blickwinkel über das eigentliche Kriegsgeschehen hinaus und betrachtet die weltweite Aufrüstung vor dem Hintergrund der weltwirtschaftlichen Probleme.

Innerhalb der Partei Die Linke wurde »Offenheit« gegenüber der NATO und mehr parlamentarische Anpassung als Rezept gegen den Niedergang vorgeschlagen. Klaus Dallmer unterzieht diese Vorschläge einer Kritik.

Das russische Regime ist derart auf Putin zugeschnitten und von ihm abhängig, dass in einer Zeit nach ihm die Karten neu gemischt werden müssen, so Ewgeniy Kasakow. Er versucht deshalb zu beantworten, wie es gegenwärtig um die russische Opposition und Linke steht und wer Machtpotenziale für eine solche Zeit hätte.

Westliche Ideologen verkleiden die geopolitische Zuspitzung der Gegenwart meistens in einen Kampf der Kulturen des asiatischen Despotismus gegen den westlichen Liberalismus. Auf der anderen Seite greife, laut russischer Ideologie, die westliche Dekadenz nach schützenswerten traditionellen Lebensweisen. Doch beide Seiten verfolgen rationale Machtkalküle und eigene Kapitalinteressen. Der letzte Teil des Buches blickt hinter diese ideologische Camouflage auf die Ebene der Geostrategie und des Weltmarktes, ohne die die gegenwärtigen Auseinandersetzungen nicht zu verstehen sind.

Welche grundlegenden Konfliktlinien bestehen auf Ebene der Geostrategie zwischen Russland und den USA? Die britische Gruppe Critisticuff analysiert den geopolitischen Konflikt zwischen den Ansprüchen der russischen Regionalmacht und der US-Weltmacht.

In der westlichen Vorstellung folgten auf die liberalen 1990er Jahre unter Boris Jelzin die autoritären Jahre der Putin-Administration ab den 2000er Jahren. Dieser Auffassung der russischen Geschichte widerspricht Felix Jaitner. Bereits die Einführung des Kapitalismus in Russland sei ein in höchstem Maße undemokratischer Akt gewesen, der durch eine kleine Elite durchgeführt wurde, um das Land dem Weltmarkt zu öffnen.

Das US-Militär ist der größte nicht-staatliche CO2-Emittent und liegt mit seinem CO2 Ausstoß noch vor Ländern wie Portugal und Peru. Wenn die Militärs der Welt ein Land wären, hätten sie den viertgrößten CO2-Fußabdruck. Die gegenwärtige Aufrüstung bedroht folglich nicht nur unmittelbar die Menschen in Kriegsregionen, sondern die gesamte Ökologie des Planeten. In ihrem Beitrag »Kampf ums Gas« beschreiben Aaron Eckstein, Ruth Jackson und Lukas Egger nicht nur die technischen und logistischen Schwierigkeiten, die die angestrebte Abkehr vom russischen Gas mit sich bringt, sondern auch die verheerenden Folgen für das Klima.

Die gegenwärtige Politik der NATO gegenüber Russland beruht auf einem geopolitischen Konzept, das nicht erst nach Ausbruch des offenen Krieges zwischen Russland und der Ukraine entstanden ist. Seine Ursprünge liegen in den ostpolitischen Strategien des wilhelminischen Deutschlands und ihrer Fortschreibung durch den deutschen Faschismus. Der Historiker Rainer Zilkenat beschäftigt sich in seinem Beitrag mit dem ihnen zugrunde liegenden strategische Denken.

Vor dem Hintergrund der »globalen Blockbildung« und einer »neuen Ära verheerender Großkriege«, die das Ende des »globalen Marktradikalismus, der das Weltsystem vierzig Jahre lang beherrschte«, einläute, müsse eine neue antiimperialistische Perspektive entwickelt werden, so die Initiativgruppe Sozialismus oder Barbarei. Sie beschließen das Buch mit »Fünfzehn Thesen für einen neuen Antiimperialismus«.

Dem komplexen Gegenstand der sich momentan vollziehenden größeren geopolitischen und ökonomischen Verschiebungen, den oft widersprüchlichen Kapitalinteressen sowie der Situation in Russland und der Ukraine, kann sich selbstverständlich in diesem Sammelband nur angenähert werden. Doch wir hoffen, dass wir Einigen dabei helfen können, sich dem Sog der Kräfte zu entziehen, den die globalen Spannungen momentan entwickeln und der aus der Düsternis der Gegenwart kaum mehr einen Blick hinaus erlaubt. Wir hoffen dazu beizutragen, diesen Blick zu schärfen, damit der Schleier des Geschwätzes von Freiheit, Nation und Aufrüstung, der unsere Gegenwart umgibt, zerschnitten werden kann.


AK Beau Séjour (Hg.): Sterben und sterben lassen. Der Ukrainekrieg als Klassenkonflikt, Berlin 2014.

  1. Die Versuche, innerhalb der ukrainischen Armee eigene Einheiten aufzubauen, müssen jedoch als einigermaßen desaströs betrachtet werden. Eine sogenannte Antiautoritäre Einheit, die sich innerhalb der territorialen Selbstverteidigung gründete, und die auch zahlreiche internationale Kämpfer anzog, löste sich aus verschiedensten Gründen schnell auf. Die internationalen Kämpfer verloren bald den Zugang zu Waffen oder es wurde ihnen der Aufenthaltstitel aberkannt, während die ukrainischen Anarchisten bald in anderen Landesteilen eingesetzt wurden. Einige Anarchisten und Antifaschisten schlossen sich gar Einheiten an, die direkt mit faschistischen Gruppen wie dem Rechten Sektor oder Asow verbunden sind, da diese am leichtesten zugänglich waren. Viele leugneten daraufhin die Rolle der Faschisten und dienen nun innerhalb ultrarechter Einheiten. Vgl. dazu: Anarchist Black Cross Dresden: Ein politisches und persönliches Statement; ein positiver Bericht findet sich hier: Interview mit Taras Bilous: Als Sozialist die Ukraine verteidigen, Emanzipation. Zeitschrift für ökosozialistische Strategie. ↩︎